Forum für Universität und Gesellschaft

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China im Fokus mit Matthias Stepan, Beatrice Born, Eva Lüdi Kong und Stefan Baron (v.l.n.r.). Bild: @ FUG / Stefan Wermuth

China kennen, China verstehen?

Im Zentrum der ersten Veranstaltung zu China des Forums für Universität und Gesellschaft standen die kulturellen und politischen Grundlagen für die Entwicklung des «Reichs der Mitte». 

Von Markus Mugglin

Die Spurensuche für das Verstehen von China begann mit einem Gespräch mit einer Forscherin und zwei Forschern aus China, die an der Universität Bern tätig sind. Über ihre Herkunft und ihren Werdegang erschlossen sich gleich die enormen Dimensionen und die Andersartigkeit Chinas. Sie stammen aus sogenannt kleineren Städten im Riesenreich, die aber Millionenstädte sind. Sie zogen bald weg von dort, absolvierten ihre Studien in Bejing oder Universitäten anderer Grossstädte. Und sie machten sich auf in die Schweiz, weil sie als Teil der globalen Forschungs-Community nach Spezialisierungen Ausschau hielten. Hier forschen sie zu Fragen des internationalen Wirtschaftsrechts, der Agrartechnologie oder zu Therapien gegen Lungenkrebs. Das Gespräch machte klar, dass China in die oberste Liga internationaler Forschung und Innovationen aufgestiegen ist.  

Reich der Mitte und seine Herausforderungen

Es ist ein Wiederaufstieg. Als Reich der Mitte versteht es sich schon lange. Daran erinnerte der Bestseller-Autor von «Die Chinesen», Stefan Baron. Die Chinesen würden ihr Land «Zhongguo», eben «Reich der Mitte» nennen. Und da der Titel seines Referates «Reich der Mitte 2.0» ergänzt mit einem Fragezeichen formuliert wurde, betonte er gleich, dass es das Fragezeichen eigentlich nicht brauche. Global werde es das Reich der Mitte gewiss, offen sei nur, ob das in 10, 15 oder in 20 Jahren der Fall sein wird. 

Nur wenn man davon ausgehe, stelle man sich der entscheidenden Frage, ob uns dieser Aufstieg verängstigen müsse. Nein, meinte Baron. Der Aufstieg stelle aber eine der ganz grossen Herausforderungen des Jahrhunderts dar und das auf vier Ebenen: der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, des politischen und ökonomischen Systemwettbewerbs, des geostrategischen Wettbewerbs zwischen den USA und China und wegen der kulturellen Andersartigkeit Chinas. 

Wirtschaftlich fordere China uns heraus, weil die für den Westen bequeme Arbeitsteilung Billigware gegen Investitionsgüter zu Ende gehe. Europa versuche – im Gleichschritt mit den USA – China zu bremsen und poche auf Reziprozität, will heissen, Gleichbehandlung und gleicher Marktzugang. Chinas Vorstellung von Reziprozität setze aber gleichen Entwicklungsstand und gleiches Wachstumspotenzial voraus. Beides sei nicht gegeben, meinte Baron. China sei noch kein entwickeltes Land und sein Wachstumspotenzial sei unendlich viel grösser. 

Noch wichtiger als den wirtschaftlichen Wettbewerb schätzte Stefan Baron den politischen Systemwettbewerb ein. Die wirtschaftlichen Erfolge und die konsequente Modernisierung machten Chinas Modell für viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika attraktiv. Versuche, China von seinem staatlichen Kapitalismus abzubringen, erachtete Baron als chancenlos. Warum sollte es das tun, habe dieser doch ermöglicht, in 30 oder 40 Jahren zu schaffen, wofür der Westen 200 Jahre gebraucht habe. Der Westen täte besser daran, sich selber fit für die Zukunft zu machen.

Geostrategisch versuchten die USA den Aufstieg Chinas zu bremsen oder gar zu verhindern. Den Handels- und Technologiekrieg wertete Stefan Baron als Vorspiel für einen neuen Kalten Krieg. Das Projekt Seidenstrasse möge für die USA eine Gefahr sein. Für Europa sei sie eine Chance, könnte es doch beim Aufbau eines eurasischen Wirtschaftsverbunds mitwirken und aktiv zu einer multipolaren Weltordnung beitragen. 

Man könne sich natürlich fragen, was passieren würde, wenn die Pax Americana durch eine Pax Sinica abgelöst würde. Führte das zu weniger Wettbewerb und weniger Demokratie? Auch diese Angst erachtete der Redner als unbegründet. Denn die Chinesen seien keine Missionare mit Sendungsbewusstsein und Expansionsdrang. Die grosse chinesische Mauer stehe als monumentales Beispiel für defensives Denken.

Abschliessend ging Stefan Baron auf die Verunsicherung ein, die China als Land aus einer uns fremden Kultur auslöst. Auch darauf sollten wir nicht defensiv reagieren. In einer nicht mehr vom Westen dominierten Welt seien Wohlstand und Frieden von der Fähigkeit abhängig, das Denken und Fühlen anderer Völker zu verstehen. Doch gerade daran mangle es Europa – leider, meinte Stefan Baron. 

Politisches System im Wandel

Ob als «Konsultativer Autoritarismus», «Digitaler Leninismus» oder «Datendiktatur» bezeichnet, autoritaristisch sei das politische System Chinas bestimmt, meinte Matthias Stepan vom Mercator Institute for China Studies in Berlin. Doch pragmatisch setzte er bei der Definition «Regieren ist Problemlösung» an. Und an Problemen mangle es nicht. Es gebe eigentlich nicht nur das eine China. Westchina sehe ganz anders aus als China an der Ostküste. Die Metropolstädte seien Ausreisser. Unweit davon fühle man sich in ein anderes Zeitalter zurückversetzt. Dazu kämen die alternde Gesellschaft, grosse Unterschiede zwischen Arm und Reich, Umweltverschmutzung in Städten, Gegensätze zwischen technologisch führenden Unternehmen und Bauern in der Subsistenzwirtschaft. 

Seit Mao sei es immer um den Hauptwiderspruch zwischen den Bedürfnissen der Menschen und der Rückständigkeit des Landes gegangen. Doch je nach Ära sei verschieden definiert worden, wie damit umzugehen sei. Mao habe gesagt, wir machen das allein. Deng Xiaoping  sagte, wir müssen uns öffnen und von anderen Ländern lernen. In der «Neuen Ära» seit 2013 unter Xi Jinping wolle man das Licht nicht mehr unter den Scheffel stellen. China will globale Supermacht werden. Der Hauptwiderspruch werde nun zwischen einer unausgewogenen Entwicklung und den steigenden Bedürfnissen und Ansprüchen auf ein besseres Leben gesehen. Ziel sei qualitatives statt wie bisher quantitatives Wachstum. 

Die Kommunistische Partei Chinas (KPC) erhebe seit dem Parteitag 2017 einen «absoluten Führungsanspruch». Xi Jinping sei seither unangreifbar, da neu im Parteistatut erwähnt und in der Verfassung verankert. Die Amtszeitbeschränkung des Staatspräsidenten wurde aufgehoben, die führende Rolle der KPC in die Verfassung aufgenommen und die Verschmelzung des Staates in die Partei festgeschrieben. 

Bis in alle Bereiche des Staates, des Militärs, der Gesellschaft, der universitären Einrichtungen und der Medien erstrecke sich der Führungsanspruch. Die Führung habe aber auch Sensoren für die Probleme der Menschen. Das Umweltministerium sei aufgewertet, die Gesundheitspolitik ausgebaut, das Justizsystem reformiert worden. Gleichzeitig sei die  ideologische Offensive nach innen und aussen verstärkt worden. Stepan spricht vom Bau einer grossen Propagandamauer. Internet-Souveränität werde angestrebt. Viele Daten würden gesammelt – nützliche und sensible. 

Die Bilanz des politischen Wandels unter Xi Jinping bewertete Matthias Stepan als gemischt. Auf der einen Seite stellte er die Zementierung der Macht der KPC fest und dort auf den sehr engen Kreis rund um Xi Jinping, der zugleich Generalsekretär der Partei, Staatspräsident und Vorsitzender der Zentralen Militärkommission ist. Die Partei kontrolliere mehr als zuvor den ganzen Staatsapparat. Sie mache aber nicht nur Versprechen. Die staatlich gelenkte Entwicklung käme tatsächlich der grossen Mehrheit zugute und das Rechtsbewusstsein nehme zu. Wie die jüngsten Entwicklungen in Hongkong zeigten, stellten Forderungen nationaler und gesellschaftlicher Minderheiten die Führung vor Probleme. 

Über Vertrauen und Einflussräume nach aussen

In der abschliessenden Diskussion, moderiert von Beatrice Born,  wurde eine Vielfalt von Fragen aufgeworfen und diskutiert. Über Vertrauen in der Gesellschaft, innerhalb und ausserhalb der Familie, in die Führung, regionale Loyalitäten, das Individuum in der Gesellschaft und sein Verhältnis zum Staat. 

Vertrauen sei ein grosses Thema in der chinesischen Gesellschaft, betonte die Sinologin und Übersetzerin des klassischen chinesischen Romans «Die Reise nach Westen», Eva Lüdi Kong. Sie hat 25 Jahre in China gelebt. Innerhalb der Familie und den Beziehungsnetzen in der Verwandtschaft vertraue man sich hervorragend, ausserhalb hingegen nicht, weiss sie aus eigenen Erfahrungen. Man könne gar sagen, dass die Chinesen den Chinesen am wenigsten vertrauen würden. Die Gesellschaft funktioniere weniger als bei uns über Regeln und darauf sei auch weniger Verlass. Dafür spielten Gefälligkeiten dank persönlichen Beziehungen eine wichtige Rolle. 

Für die Führung bedeute es, dass sie Vertrauen und Legitimation durch Erfolge erwerben müsse, ergänzte Stefan Baron. Und das könne sie auch. Um die Legitimation müsse sich die Führung aber immer wieder bemühen und habe es gerade getan durch die bessere soziale Absicherung der Menschen, fügte Matthias Stepan hinzu. 

Kontrovers bewertet wurde das Thema Sendungsbewusstseins. Stefan Baron stellte es in Abrede, Matthias Stepan wies hingegen auf die Definition von Einflussräumen und den gewachsenen militärischen Fussabdruck im südchinesischen Meer hin. Es gehe um reine Selbstverteidigung relativierte wiederum Baron. Denn zwei Drittel der Importe kämen über dieses Meer, eine Blockade würde das Land lahmlegen.  

 

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Der Ökonom Markus Mugglin arbeitet als freischaffender Journalist.