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Aufnahme der Referentin Prof. Dr. Christine Brombach hinter einem Rednerpult. Sie trägt ein rotes Kleid, neben ihr ist ein Blumenstrauss in beige- und Gelbtönen zu sehen.
«Die Esskultur beginnt mit der Muttermilch», beginnt Prof. Dr. Christine Brombach ihr Referat. Bild: © FUG/Stefan Wermuth

Die Ausdifferenzierung unserer Esskultur

Unser aktuelles Essverhalten unterliegt verschiedensten Einflussfaktoren. In einer dichten Zeitreise skizziert Christine Brombach sechs Phasen der Esskultur von der Steinzeit bis zu den heutigen Haushalten in der Schweiz, in welchen weniger als eine Stunde pro Tag für das Kochen aufgewendet wird.

Von Sarah Beyeler

«Die Esskultur, sie beginnt mit einem Lebensmittel – mit der Muttermilch, in allen Kulturen, zu allen Zeiten», betont Prof. Dr. Christine Brombach von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit Verve.
Gegessen werde das ganze Leben lang – 1.5 Tonnen feste und flüssige Nahrung seien es ungefähr pro Person und Jahr. Doch was versteht die Referentin unter Esskultur? «Sie umfasst unser materielles und immaterielles Umfeld, vielfältige Gegenstände, Gerätschaften und soziale Regeln und ist immer in einen geographischen und zeithistorischen Rahmen eingeordnet.» In keiner Kultur sei Essen voraussetzungslos, betont Brombach. Die heutige Esskultur sei vor allem geprägt durch die Unüberschaubarkeit des Angebots, die Zeitgleichheit von Essen und anderen Handlungen, zeitliche und räumliche Beliebigkeit, industriell hergestellte Lebensmittel und nicht zuletzt von einer zunehmenden Entfremdung.

Esskulturen im Wandel

Unser Essverhalten lasse sich nicht einfach ändern oder umgestalten, ohne seine Vielschichtigkeit und Entstehungszusammenhänge zu berücksichtigen. Das facettenreiche Zusammenspiel verschiedenster Einflüsse und Rahmenbedingungen skizziert Brombach in einer dichten Zeitreise von der Steinzeit bis heute. Sie unterteilt den Zeitstrahl in sechs Phasen oder «Dilemmata», welche die Menschheit und Individuen vor bestimmte Herausforderungen stellten und damit die jeweilige Esskultur prägten.
Das «nutritive Dilemma» (Steinzeit bis Sesshaftwerdung): Der Mensch habe evolutionär eine dürftige Ausstattung an Instinkten. Gleichzeitig müssten wir essen, um zu überleben, auch wenn die Nahrungsaufnahme mit Risiken verbunden ist. «Essen müssen wir erst lernen», so Brombach: Essbares von Nicht-Essbarem unterscheiden, Bekömmliches von Unbekömmlichem, Schmackhaftes von Ekelerregendem, «denn auch Schmecken wird erlernt».
Das «kulturelle Dilemma» (bis ca Neuzeit): Nutzpflanzen werden angebaut und Nutztiere eingesetzt. Die Überwindung der Nahrungsknappheit prägte diese Phase: «Die meisten haben wenig, etliche ausreichend und wenige zu viel zu essen.»

Lebensmittelsysteme haben das Potenzial, die menschliche Gesundheit zu fördern und die ökologische Nachhaltigkeit zu unterstützen; sie bedrohen jedoch derzeit beides.

Prägend für das «Maximierungsdilemma» (bis ca. 1970) seien u.a. Agrarreformen und die Trennung von Arbeit und Wohnen. Die Produktion von Nahrung verschwinde aus der Öffentlichkeit, Essen werde zunehmend anonym und privat.
Danach träten politische und ökologische Aspekte des Essens in den Vordergrund. «Auf einmal verstehen wir, dass Essen auch politisch ist.» Medial vermittelte Lebensmittelskandale, Umweltbewegungen und die global ungerechte Verteilung von Nahrungsmitteln infolge von Kriegen und Dürren prägten das «politische und ökologische Dilemma»(bis ca. 2000). In den Folgejahren gerate Essen zunehmend in die Öffentlichkeit und werde digital über Medien geteilt. Die Angebotsfülle an Lebensmitteln überfordere viele Konsument:innen, denn «die Vielfalt an Möglichkeiten führt zu einem Zwang zur Wahl». Entsprechend nähmen Unsicherheiten, Vertrauensverluste und die Sorge um gesundes Essen während dem «digitalen Dilemma» zu. Gleichzeitig propagierten (selbsternannte) Expert:innen verschiedene Diäten und Esstrends und beanspruchen für sich, «die richtige» oder «richtigere» Ernährungsweise zu vermitteln. Im sechsten, «transformativen und krisengeprägten Dilemma» schliesslich stehe die Frage nach der zukunftsfähigen Ernährung im Vordergrund: «Lebensmittelsysteme haben das Potenzial, die menschliche Gesundheit zu fördern und die ökologische Nachhaltigkeit zu unterstützen; sie bedrohen jedoch derzeit beides.»

38 Minuten, die von Interesse sind

Wie geht es weiter? Welche praktischen Ansätze stehen bezüglich zukunftsfähiger Ernährung im Vordergrund? In der Schweiz werde mit 38 Minuten pro Person und Tag noch vergleichsweise viel Zeit ins tägliche Kochen investiert. Was genau in diesen 38 Minuten passiere, das sei für sie als Wissenschaftlerin von Interesse. Können die Menschen ihr Wissen über das Kochen und die (nachhaltige, gesunde) Ernährung auch umsetzen? Der Kochalltag sei vielschichtig und komplex und spiele sich nicht ausschliesslich am Herd ab. Man müsse planen und budgetieren, Vorrat halten und diesen sinnvoll bewirtschaften, Foodwaste vermeiden, wertschätzend mit Lebensmitteln umgehen, ökologisch einkaufen, dabei das Tierwohl im Auge behalten und zu all dem erst noch gesund und fein kochen. Doch die Alltagskompetenz Kochen sei nicht mehr selbstverständlich. «Wir möchten Menschen befähigen», schliesst Christine Brombach, «und ihnen die Verantwortlichkeit für ihr Tun zurückgeben».

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Sarah Beyeler arbeitet am Forum für Universität und Gesellschaft

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