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«Wir brauchen Governance und private Mündigkeit»

Digitale Plattformen sind eine neue Form von Infrastruktur. Sie sind für die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität demokratischer Prozesse von erheblicher Relevanz. Otfried Jarren plädiert deshalb für staatliche Regulation und eine neue Verantwortungskultur. 

Von Marcus Moser

Das dritte Forumsgespräch zur «Demokratischen Willensbildung im Zeitalter der Klickraten» trug den Untertitel «Lösungsansätze: Wir brauchen Governance und private Mündigkeit». Über Mündigkeit mochte Otfried Jarren, emeritierter Professor für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung zunächst aber nicht sprechen: «Mündigkeit erhoffen wir uns alle. Die ist aber nicht so leicht zu erreichen, wenn sie eine personalisierte Information erhalten. Von wem bekomme ich sie? Sind es Menschen, Algorithmen oder Social Bots (ein Social Bot ist ein selbsttätiges Programm, das in sozialen Netzwerken menschliches Verhalten simuliert. Red.), welche die Nachricht gesendet haben? Wir wissen es nicht. Es gibt viel Intransparenz!» Und um genau diesen Mangel an Transparenz ging es Jarren, respektive darum, wie Transparenz im Zeitalter der Plattformökonomie hergestellt werden könnte. Denn: «Die bisherigen Instrumentarien, die wir für klassische Märkte entwickelt haben, greifen hier nicht mehr.»

Plattformen sind für die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität demokratischer Prozesse von Relevanz

Plattformen als neue Infrastruktur

«Plattformen sind neue Formen von Infrastruktur, die auch, aber nicht nur, der gesellschaftlichen Information und Kommunikation dienen», unterstrich Otfried Jarren. «Sie sind für die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität demokratischer Prozesse von Relevanz.» Stabile, sichere Informations- und Kommunikationsprozesse – Jarren sprach von «digitaler Souveränität» – seien nicht einfach gegeben, wie der Blick auf den derzeitigen Krieg in Europa exemplarisch aufzeige, sondern bedürften einer dauerhaften Sicherstellung. Bloss wie? Bevor sich Kommunikationsforscher Jarren der Beantwortung dieser Frage zuwandte, folgte eine Analyse der Besonderheiten des digitalen Marktes, wobei er drei Marktperspektiven unterschied: Den Markt der Anbieter, den Markt der Nutzer, den Markt der Beobachter.

Ein Markt, drei Perspektiven

Der Markt der Anbieter ist global und im Wesentlichen dominiert aus zwei Weltregionen (USA; China). Die Anbieter bilden Konglomerate und haben holdingartige Strukturen. Beispiele sind Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp, Oculus, andere) oder Alphabet Inc. (Google, Youtube, andere). Sie profitieren von der Netzwerkökonomie, neue Anbieter haben entsprechend Probleme beim Marktzutritt. Die Formen und Inhalte der in ihnen veröffentlichten Kommunikationen basieren auf ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) und Nutzerregeln (Privatrecht, privat law). Dank ihrem eingesetzten Kapital, der Software und ihrer Marktmacht versprechen sie ihren Nutzer:innen Teilhabe zu eigenem kommunikativem Einfluss und eigener Reputation.

Der Markt der Nutzer ist individuell, das Verhältnis der Plattformbetreiber zu den Nutzer:innen individualisiert (AGB). Die Umsonst-Kultur führt zur Inkaufnahme von Mängeln. Auf Rechte (Urheberrecht) wird verzichtet, Organisationen zur Interessenvertretung (Konsumentenschutz) existieren nicht. Die Chance auf die Erringung eigener Kommunikation und eigener Reputation rechtfertigt individuell die Bezahlung durch eigene Daten.

Der Markt der Beobachter dagegen ist quasi inexistent. Die Anbieter organisieren selber Messungen und Bewertungen. Die Daten sind für Dritte (zum Beispiel die Wissenschaft) nicht zugänglich respektive werden selektiert. An sich unabhängige öffentliche Institutionen - wie zum Beispiel Polizei, Politik oder Universitäten - geraten bei Nutzung in strukturelle Abhängigkeiten; der Wettbewerb um Aufmerksamkeit, Relevanz und Reputation verlagert sich in die unterschiedlichen digitalen Plattformen. Das Risiko der Fragmentierung von Wahrnehmung wächst; es entstehen unterschiedliche Normen und Regeln der Relevanzzuschreibung.

Marktversagen erfordert Regulierung

Für Otfried Jarren ergibt sich aus dieser Marktkonstellation von Anbietern, Nutzer:innen und Beobachtern ein klarer Schluss: die strukturellen Defizite sind gross, eigentlich ist von einem Marktversagen zu sprechen. Was tun? Da es sich bei digitalen Plattformen um Infrastrukturen handelt, muss der Staat handeln. Regulierung ist für Otfired Jarren die logische Antwort. Aber wie? Mit Blick auf die noch jungen Regulierungsansätze der Europäischen Union (Digital Markets Act DMA, 2020, Digital Services Act DSA, 2022) stellt Jarren fest, dass die sich erst noch zu bewähren hätten. Aber die Richtung stimmt. Mit Blick auf die Schweiz rädt er dazu, die EU-Regulierungsänsätze auf ihre Wirksamkeit hin zu beobachten und taugliche Elemente für Schweizerische Regulierungsvorhaben zu übernehmen.

Ottfried Jarren ist aber auch davon überzeugt, dass nationalstaatliche Regulierungsmassnahmen – eben Government – nicht reichen. Es gäbe zu viele Ausweichsmöglichkeiten für die Akteure und entsprechend Durchsetzungsprobleme für Massnahmen, gibt er sich überzeugt. Deshalb brauchen es auch Governance: ein Zusammenwirken von staatlichen Institutionen, privaten Akteuren und der Zivilgesellschaft. «Governance erfordert in einem ersten Schritt Government – also Regulierung». Bezogen auf Plattformen und die digitale Kommunikation seien die tradierten medien- und rundfunkrechtlichen Ansätze für Regulierung allerdings nicht mehr ausreichend, ist Jarren sicher. «Wir sind nicht mehr im Zeitalter der Medien, wir sind im Zeitalter der Kommunikation.» Wolle man unter diesen Bedingungen Ziele erreichen, sei eine Verantwortungskultur aus Government und Governance nötig; Government bezogen auf Markt, Software, Daten. Irgendwie war Otfried Jarren zum Ende doch bei Mündigkeit gelandet; einer gesellschaftlichen, nicht bloss privaten Mündigkeit.

Zum Autor

Marcus Moser ist Geschäftsleiter des Forums für Universität und Gesellschaft

Zur Veranstaltung

Das Bundeshaus steht auf einem digitalen Zahlenteppich aus Nullen und Einsen. Das Eingangsportal wird von Säulen aus zusammengerollten Zeitungen gestützt, die langsam am einstürzen sind. Über dem Eingangsportal steht das Wort Demokratie.
© Christa Heinzer

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