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Zum Phänomen des Hasses
Hass stand im Zentrum der ersten Veranstaltung der Reihe «Neue Gräben und Mauern» des Forums für Universität und Gesellschaft: Von der historischen Perspektive über strukturelle Bedingungen für Hassrede bis hin zu technologischen Voraussetzungen für digitalen Hass wurden verschiedene Aspekte des Phänomens beleuchtet.
Von Sarah Beyeler und Marcus Moser
Von politischer Entfremdung, Polarisierung und Rissen im Zusammenleben sprach Forumspräsidentin Prof. Dr. Virginia Richter in Ihrer Begrüssung: Zahlreiche westliche Gesellschaften entwickelten sich von auf Konsens beruhenden Demokratien hin zu polarisierten Gesellschaften, in denen die Regeln der zivilen Debattenkultur massiv verletzt würden und politische Kritik in Hassrede, körperliche Übergriffe und sogar Mord umschlage.
In der Schweiz sei eine totale Spaltung der Gesellschaft noch weit entfernt, betonte Richter. Nicht zuletzt aufgrund einer historisch verankerten Konsens- und Kompromisskultur und einer Regierungsstruktur, die sich nicht in Opposition und Regierung teile. Doch auch hierzulande verschärfe sich der Stil der Debatten. Gerade im Umfeld von Corona liessen sich viele Beispiele von persönlichen Attacken, Hass und Falschbehauptungen finden. Häufig würden solche Übergriffe verharmlost. Dabei werde übersehen, «wie oft dem Umschlag in Gewalt eine sprachliche Vergiftung der Atmosphäre vorausgeht. Hassrede bereitet den Boden für die Delegitimierung des Gegners, für seine Entwertung als Mensch», so Richter.

Implizite Vorurteile betreffen uns alle
«Hass und Vorurteile betreffen alle Bevölkerungsgruppen – und es trifft sie nicht nur als Zielscheiben», betonte Prof. Dr. Isabelle Noth vom Institut für Praktische Theologie der Universität Bern. Sie richtete den Fokus von der gesellschaftlichen auf die individuelle Ebene: Erst die radikale Einsicht, dass unsere Einstellungen uns nicht immer bewusst zugänglich seien und wir nicht immer objektiv bewerteten, ermögliche einen sinnvollen Umgang mit ihnen.
Es sei eine unangenehme Erkenntnis, dass wir alle von kognitiven Verzerrungen gelenkt, beeinflusst und getäuscht würden. «Was ehrlich gemeint ist und in der eigenen Wahrnehmung stimmt, mag dennoch nicht die ganze Wahrheit sein.»
Solche Verzerrungen könnten mit dem Impliziten Assoziationstest IAT erfahrbar werden. Der Test misst Einstellungen, die der bewussten Kontrolle weniger zugänglich sind.
Was lässt sich aus unseren Vorurteilen und Selbsttäuschungen machen und wie können wir sie überwinden, fragte Isabelle Noth. Als eindrückliches Beispiel nannte sie den Redakteur und Schriftsteller Antoine Leiris, dessen Frau in den Terroranschlägen in Paris ums Leben kam. Als Reaktion postete er auf Facebook einen Brief an die Attentäter, der um die Welt ging: «Freitagabend habt ihr das Leben eines ausserordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht.»

Hass – zur Geschichte eines historischen Kampfbegriffs
Hass ist ein Unwort. «Kaum jemand mag heute öffentlich zugeben, dass er zum Hass bereit oder von Hass erfüllt ist», stellte Prof. Dr. Ute Frevert, Direktorin des Forschungsbereichs «Geschichte der Gefühle» am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, zu Beginn ihres Referates fest. In ihrem Streifzug durch die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zeigte Frevert verschiedene Stadien der Begriffsverschiebung auf.
Die bürgerliche Gesellschaft des 18. Jahrhundert pflegte idealerweise eine Kultur emotionaler Mässigung. Die richtige Sensibilität wurde zum Abgrenzungsmerkmal der gebildeten Schichten. Und dies betraf «Hass» in besonderem Masse. Dieses Gefühl bedrohte die Grundfesten des Zusammenlebens. In ein ähnliches Horn blies Johann Heinrich Zedler in seinem «Universal Lexikon» von 1732. Für Ute Frevert eine wichtige Zäsur: «Mit grossem Aufwand suchte der protestantische Autor zu widerlegen, dass die Bibel Hass für legitim und notwendig erachte». Gott habe – immer mit Zedler – mehrere Verbote gegen das anhaltende Zürnen ausgesprochen; wer Gerechtigkeit wolle, «verfahre ohne Hass und Bitterkeit, mehr wider das Laster und die Bosheit selbst als wider den Menschen». Damit formulierte Zedler eine für das moderne Strafrecht zukunftsweisende Losung und entzog dem Hass gemäss Frevert «jedwelche theologische Rechtfertigung».
Von solchen Überlegungen war Ernst Moritz Arndt 1813 weit entfernt: Ute Frevert interpretierte seine «Hasspredigt» vom gleichen Jahr als «Gründungsdokument des modernen Nationalismus», in drei Punkten: 1. Hass ist legitim und notwendig, wenn es gilt, Fremdherrschaft abzuschütteln. 2. Hass auf das Fremde bedarf der Liebe zu Eigenen. 3. Hass umgibt sich mit aggressiven Vokabeln, endet aber am Grenzpfahl. Es geht nicht um Vernichtung des Anderen, sondern um Unterscheidung und Trennung: um Verschiedensein.
Mit feinen Strichen skizzierte Ute Frevert den weiteren Verlauf: Die Wirkung des Begriffs der «Reichsfeinde» von Reichskanzler Otto von Bismarck oder das Reichsstrafgesetzbuch von 1873, in dem die «Anreizung zum Klassenhass» unter Strafe gestellt wurde. Die Gruppe der «Hassobjekte» erweiterte sich drastisch, kommentierte Frevert mit Blick auf die innerdeutsche Entwicklung, auf den Ersten Weltkrieg, die Pariser Vorortsverträge. «Fanatismus bekam einen guten Klang. Er ging mit dem Hass auf Andersdenkende einher. Und diese Andersdenkenden fand man jetzt – im 20. Jahrhundert - vornehmlich im eigenen Land». Hass als Gefühl war lange nicht strafbar und «gerichtsfest». Dies geschah gemäss Ute Frevert erst mit der Neuformulierung von Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs in den 1960er Jahren. Neu war damals der Verweis auf die Menschenwürde und wie sie angegriffen werden konnte: Durch Beschimpfung, böswilliges Verächtlichmachen und Verleumdung.
«Mit Hass schmückt man sich nicht gern», meinte Ute Frevert, «jedenfalls nicht, wenn man als Bürger:in einer Demokratie gelernt hat, dass die eigene Meinung gleich zählt wie eine andere». An manchen Rändern löse sich diese Lernerfahrung indes auf, hier werde Hass zum «gemeinschaftsbildenden Code». An anderen Orten halte man sich Hass vom Leib, schreibe ihn aber gerne anderen zu. Ute Frevert schloss ihre dichten Ausführungen mit einem Zitat von Berthold Brecht: «Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. (...) Ach, wir die wir den Boden bereiten wollten für die Freundlichkeit konnten selber nicht freundlich sein.»

Über die Schwierigkeit, Rassismus im Schweizer Kontext zu analysieren
Um die strukturellen Dimensionen von rassistischen / sexistischen Äusserungen ging es im Beitrag von Prof. Dr. Patricia Purtschert vom Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern. Als Ausgangsbeispiel diente ihr die Betitelung der neugewählten WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala als «Grossmutter» im Frühling 2021 in einer Schweizer Zeitung.
Purtschert fragte nach den gesellschaftlichen Bedingungen dafür, dass dieser Titel gewählt wurde und analysierte nationale und internationale Reaktionen: Es falle auf, dass in den internationalen Reaktionen ganz klar von einem sexistischen und rassistischen Vorfall die Rede sei; «in der Schweiz ist dies nicht mit derselben Deutlichkeit festgehalten worden und das ist kein Zufall».
Die Zeitung habe sich entschuldigt, den Titel als «unangebracht» bezeichnet und festgehalten, er sei nicht rassistisch motiviert gewesen. Der Schweizer Presserat stufte den Titel als problematisch ein und anerkannte eine Diskriminierung in Bezug auf Sexismus, nicht aber auf Rassismus. «Struktureller Rassismus bedeutet aber gerade, dass eine Handlung auch nicht-intentional sein kann und dennoch rassistische Auswirkungen hat», kommentierte die Referentin den Entscheid.
Deshalb müsse der Rassismusbegriff weiter gefasst werden: «Rassismus geht weit über die Hautfarbe hinaus, es geht auch um Gesten, Verhaltensweisen, Namen, Akzente, Kleidung, die durch ein rassistisches Raster gelesen werden.» Und es gehe darum, die Verschränkung von Rassismus mit anderen Diskriminierungskategorien, etwa Geschlecht, zu verstehen.
Um dieses Verständnis zu fördern wollte Purtschert «Spuren legen», um zum Nachdenken darüber anzuregen, welche Bilder von älteren Schwarzen Frauen in der Schweiz zirkulieren. Eine solche Spur sei zum Beispiel das Blackfacing, «eine ganz klar als rassistische Praxis ausgewiesene Form, die nach wie vor auch im Schweizer Fernsehen verwendet wird», etwa von Birgit Steinegger als Frau Mgubi.
Eine weitere Spur finde sich im Kontext von Entwicklungszusammenarbeit. Auch hier würden ganz bestimmte Bilder von Schwarzen Frauen verbreitet: Frauen in ärmlicheren Ländern, die von westlicher Hilfe abhängig sind. «Solche Vorstellungen machen es wiederum schwierig, sich eine ältere Schwarze Frau als WTO-Chefin vorstellen zu können.»
Abschliessend forderte Purtschert, dass wir uns auf Aushandlungsprozesse darüber, was rassistisch sei oder als Rassismus verstanden werde, einlassen müssten. Es sei zu einfach, Forderungen nach Aushandlung einfach als Zensur oder Übersensibilität abzutun und von Beginn weg eine Abwehrhaltung einzunehmen. Es gehe darum, die Normalisierung von vielen Formen von Rassismus und Sexismus aufzubrechen und wirkmächtige Formen des Schweigens zu thematisieren. «Das ist eine Grundlage dafür, dass wir verstehen, warum bestimmte Handlungen von Hass so verletzend sind.»

Erneut verschob sich der Fokus, diesmal weg von den strukturellen Bedingungen des Sagbaren hin zu technologischen Bedingungen für digitalen Hass. «Digitaler Hass ist die Kombination von Technik und Mensch. Es sind technische Kommunikationsbedingungen, die den Hass fördern, weil sie die Hürden, die wir im offline-Kontext haben, deaktivieren», erklärte Dr. Lea Stahel vom Soziologischen Institut der Universität Zürich.
Fehlende Gatekeeper, spärliche Kontrollmechanismen und die Möglichkeit, Beiträge unmittelbar zu veröffentlichen, förderten die enthemmte und unsanktionierte Online-Kommunikation. Die Folgen von Online-Hass seien indes sehr real, betonte Stahel; der Hass werde vom Internet in die offline-Realität getragen.
Die Akteur:innen teilte Stahel in drei Gruppen ein: Organisierte Hassgruppen, eher informelle, fluide Netzwerke und einzelne Internetnutzer:innen, die in Kommentarspalten Hass zu verbreiten versuchen. «Individuen können sehr flexibel zwischen den drei Organisationsformen wechseln, das macht das Phänomen so dynamisch».
Auch die Austragungsorte sind schwer einzugrenzen: «Prinzipiell kann man digitalen Hass in allen möglichen Interneträumen verfolgen», so Stahel. Etablierte soziale Medien würden genutzt, um Hassbotschaften (global) zu verbreiten, aber auch unmoderierte Kommentarspalten von Nachrichtenmedien, E-Mails und Chats, wie beispielsweise das komplett unmoderierte Telegram. «Das ist nicht ein kleiner Familienchat, das sind Chats mit mehreren hunderttausend Personen, die Meinungsführern folgen», so die Forscherin. Aber auch in Computerspielen seien Rassismus und Sexismus festgestellt worden.
Digitaler Hass könne zudem sehr versteckt zutage treten. Hassbotschaften könnten auch ohne explizite Hass-Begriffe von Menschen als Hassbotschaft erkannt werden und blieben so unbemerkt von Kontrollmechanismen.
Für die Verbreitung von digitalem Hass seien nicht nur die technologischen Bedingungen ausschlaggebend, stellte Stahel klar: «Auch die Bedingungen in einer Gesellschaft beeinflussen, ob wir mehr oder weniger Hass beobachten können». So finde sich in den Vereinigten Staaten mehr digitaler Hass, da dort die Meinungsfreiheit stark gewichtet werde. Auch in Regionen mit grosser ökonomischer Ungleichheit trete digitaler Hass verstärkt auf.
«Online-Hass wirkt sich mindestens genauso negativ aus wie Offline-Hass», betonte Stahel. Seine Auswirkungen seien individuell und gesellschaftlich gravierend, die negativen Folgen vielfältig.
Zur Verhinderung und Bekämpfung von digitalem Hass tragen diverse Institutionen mit unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten bei. Die Lösung sei aber herausfordernd – bei der Rechtsprechung gebe es den Konflikt zwischen internationaler Kommunikation und nationaler Gesetzgebung; Social-Media-Anbieter verhielten sich oft intransparent und zivilgesellschaftliche, effektive Massnahmen würden viele Ressourcen erfordern, schloss Stahel wenig optimistisch.