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Das Publikum sitzt im Hörsaal der Universität Bern und lauscht der Begrüssung der Moderatorin Susy Schär, die vorne am Rednerpult steht
Susy Schär begrüsst das Publikum zur dritten Veranstaltung der Reihe «Massenphänomen Sport». Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Massenphänomen Sport – Ein Blick auf die wichtigste Nebensache der Welt

Im Rahmen der dritten Veranstaltung zum Massenphänomen Sport wurden die Potentiale des Sports sowie der Zwiespalt zwischen politischer Erwartung und empirischer Realität diskutiert. Die Grundlage der Referate und Diskussionen bildeten die beiden Themen Gesundheit und soziale Integration.

Von Raphael Stieger

Was Sportler:innen leisten – egal auf welchem Niveau – wird immer und überall kritisch beäugt und ausführlich diskutiert. Doch was leistet denn der Sport? «Macht nur Sport gesund, oder auch Musik oder anderes?», fragte Susy Schär einleitend, die auch die dritte Veranstaltung moderierte. Und was sind die Potentiale des Sports hinsichtlich der sozialen Integration? Diese und einige Fragen mehr standen im Zentrum des letzten Abends zum Massenphänomen Sport.  

Bewegung als Wundermittel?

Die Frage, ob Bewegung ein Wundermittel sei, impliziere die Frage, was denn ein Wundermittel überhaupt sei. «Für mich hat ein Wundermittel super viele positive Effekte», sagte Claudio Nigg. Nigg studierte Psychologie und Sportwissenschaft in Kanada und den USA und ist heute Leiter der Abteilung Gesundheitswissenschaft am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern. Er führte den Zaubertrank von Asterix und Obelix als Beispiel für ein Wundermittel an. Ein Wundermittel soll für alle einfach einzunehmen sein und nicht zu viele Nebeneffekte haben. Erfüllt Bewegung diese Eigenschaften und kann sie als Wundermittel beschrieben werden?

Um aufzuzeigen, dass Bewegung viele positive Effekte hat, listete Nigg die Top 10 Todesursachen und Risikofaktoren auf. Ganze sieben der Top 10 Todesursachen seien mit Bewegung verbunden und der viertgrösste Risikofaktor sei körperliche Inaktivität. «Körperliche Aktivität ist also mit vielen Todesursachen und Risikofaktoren verbunden», fasste Nigg zusammen. Um dem entgegenzuwirken, habe unter anderem die WHO (Weltgesundheitsorganisation) Bewegungsrichtlinien formuliert. Die Botschaft sei klar: So viel Bewegung wie möglich und so wenig bewegungsarmes Verhalten (wie z.B. sitzen) wie möglich. «Jede Bewegung zählt», so Nigg. Denn Bewegung und Sport haben positive körperliche Effekte – beispielsweise auf das Herz-Kreislauf-System, die Knochen, die Gehirnphysiologie und auch das Immunsystem, was in der aktuellen Pandemielage nicht in Vergessenheit geraten sollte. Darüber hinaus habe Bewegung positive sozio-psychologische Effekte auf zum Beispiel die Kognition, die sozialen Kontakte und eine positive Stimmung. Auch könne Bewegung Stress-, Depressions- und Angstgefühle verringern.

Aber kann Bewegung gezielt gefördert werden? In der Schule erwiesen sich aktive Bewegungspausen als geeignet, wodurch nicht nur die körperliche Aktivität, sondern auch die Konzentrationsfähigkeit gesteigert werden könnten, erläuterte Nigg. Im Betrieb bewähre sich das sogenannte «Nudging». Damit sei beispielsweise gemeint, dass informative Plakate vor einer Treppe aufgehängt oder am Boden Fussspuren gelegt werden, die zur Treppe statt zum Lift führen. Dies habe schon zu einer erhöhten Treppennutzung und einer Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit geführt. Nigg strich zudem die hohe Bedeutung von Information und Beratung hervor, die sich auch in anderen Settings als bewegungsförderlich erwiesen: Sowohl ältere Menschen als auch übergewichtige oder adipöse Menschen konnten mittels Information und spezifischer Beratung zu einem gesunden und bewegungsaktiven Lebensstil motiviert werden.

Ein grosses Potential bringe auch die unmittelbare Umwelt sowie die Technologie mit sich. «Wenn man die Umwelt verändert, verändert sich auch das Verhalten», ist sich Nigg sicher. Als Beweis für seine These zeigte er Bilder von schönen, sicheren Radwegen, die von sehr vielen Velofahrer:innen genutzt wurden. Dass auch die Technologie bewegungsförderliches Potential habe, verdeutlichte Nigg am Handy-Videospiel «Pokémon Go». Dies sei zwar keine Gesundheitsapp, aber ein Spiel, in dem körperliche Aktivität eingebunden sei. In einer Studie habe man nachweisen können, dass das Spielen von «Pokémon Go» positive Effekte auf die körperliche Aktivität hatte. «Das Handy ist eine Bewegungspille», fasste Nigg das bewegungsförderliche Potential der heutigen Technologie treffend zusammen. Abschliessend war er der Überzeugung, dass Bewegung und Sport – sofern sie als Entlastung und nicht als zusätzliche Belastung wahrgenommen werden – durchaus als Wundermittel bezeichnet werden dürfen und «täglich eingenommen» werden sollten

 

Der Referent Claudio Nigg vom Institut für Sportwissenschaft während seinem Vortrag an der Universität Bern. Neben ihm steht ein Strauss Sonnenblumen als Raumschmuck.
«Jede Bewegung zählt», betonte Claudio Nigg in seinem Referat. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Soziale Integration und Sport

«Von den Gesundheitspotentialen zu den Integrationspotentialen des Sports», leitete Ulrike Burrmann ihren Beitrag ein. Für den letzten Abend der Veranstaltungsreihe nahm sie den weiten Weg aus Deutschland auf sich, wo sie Professorin am Institut für Sportwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin ist und die Abteilung Sportpädagogik leitet. Gleich zu Beginn stellte sie klar, wer im Sport vor allem gefordert sei, wenn es um die soziale Integration gehe: die Sportverbände und -vereine.

Burrmann formulierte drei Fragestellungen, die sie diskutieren wollte: Wer wird durch Sportangebote überhaupt erreicht? Welche sozialen Integrationsleistungen lassen sich für Sport(-vereine) ausmachen? Und wie sieht es mit der Integrationsfähigkeit der Sport(-vereine) während der Corona-Pandemie aus? Hierbei spiele die Unterscheidung zwischen Integration in den Sport und Integration im respektive durch Sport eine wesentliche Rolle. Die Integration in den Sport untersuche, wer durch Sportangebote erreicht werde. Die Integration im respektive durch Sport schaue sich die sozialen Integrationsleistungen des Sports genauer an.

Bei der Integration in den Sport gehe es also um Frage, wer Zugang zum Sport im Allgemeinen oder in den Sportverein im Spezifischen findet. Dabei seien sozio-demografische Merkmale von grosser Bedeutung. «Vor allem Nationalität, Bildung und das Einkommen der Eltern differenzieren sehr stark», hielt Burrmann fest. Sie verdeutlichte dies anhand der Sportbeteiligung von 6-11-Jährigen: Kinder, die in ihrer Freizeit nie sportlich aktiv sind, seien eher Kinder ohne Schweizer Pass, die Eltern der Kinder haben eher nur eine primäre Bildung absolviert und weisen eher ein geringeres Einkommen auf. Ähnliche Unterschiede seien auch bei der (Nicht-)Sportbeteiligung von Personen ab 15 Jahren zu beobachten. In den Sportvereinen, die Burrmann als «vielleicht wichtigste Sportanbieter in der Schweiz» bezeichnete, sei vor allem eine Bevölkerungsgruppe unterrepräsentiert: Mädchen mit Migrationshintergrund. Die Bildung und das Einkommen der Eltern seien auch hier mögliche Einflussfaktoren auf die geringe Beteiligung. Darüber hinaus würden die Konfession sowie die Aufenthaltsdauer eine wichtige Rolle spielen.

Demgegenüber frage die Integration im respektive durch Sport nach den sozialen Integrationsleistungen des Sports. Burrmann plädierte für ein «wechselseitiges Integrationsverständnis» und stellte die Transferannahme vor, die davon ausgehe, dass sich die im Sport(-verein) kennengelernten Werte und Normen (wie z.B. Fairplay) auch positiv in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen niederschlagen. Die Integrationsleistungen der Sport(-vereine) liesse sich auf mehreren Ebenen beobachten: soziale Integration, politische Integration sowie kulturelle, identifikatorische Integration. Hinsichtlich der sozialen Integration konnte festgestellt werden, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund dank der Sportvereine mehr soziale Kontakte haben, besser in Netzwerke eingebunden seien und sich sozial akzeptierter fühlen. Die politische Integration liesse sich unter anderem dann beobachten, wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund im Sportverein eine ehrenamtliche Tätigkeit übernehmen. Und die kulturelle, identifikatorische Integration gelinge, wenn Vertrauen aufgebaut und Vorurteile abgebaut werden können. Dies sei aber eher ein wechselseitiger Zusammenhang, betonte Burrmann und hielt fest: «Es passiert nicht automatisch oder immer».

Abschliessend kam Burrmann auf die Integrationsfähigkeit der Sportvereine während der Corona-Pandemie zu sprechen. Denn schaue man die Gründe für eine Aktivmitgliedschaft in einem Sportverein an, dann falle auf, dass sehr häufig gesellige Motive genannt werden. Doch während der Corona-Pandemie waren bekanntlich sportliche und gesellige Aktivitäten teilweise nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. «Haben sich die bestehenden Ungleichheiten verschärft?», fragte Burrmann nach den möglichen Auswirkungen auf die Integrationsfähigkeit von Sportvereinen. Auch wenn die Mitgliederbindung an Sportvereine immer noch hoch sei, konnte beobachtet werden, dass tatsächlich «besonders vulnerable Gruppen» – wie zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund oder Einkommensschwache – nicht nur nach wie vor unterrepräsentiert seien, sondern auch ein erhöhtes Austrittsrisiko aufweisen. Es sei demnach sehr wichtig, die Integrationspotentiale des Sports wahrzunehmen und Verständnis zu schaffen. Denn «der Integrationsprozess ist keine Einbahnstrasse und braucht Zeit», schloss Burrmann ab.

Die Referentin Ulrike Burrmann von der Humboldt-Universität zu Berlin während ihrem Referat an der Universität Bern. Neben ihr steht als Raumschmuck ein grosser Blumenstrauss
«Welche sozialen Integrationsleistungen lassen sich für Sport(-vereine) ausmachen?», fragte Ulrike Burrmann. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Politische Erwartung und empirische Realität – erste Podiumsdiskussion

Das übergeordnete Thema der ersten Podiumsdiskussion war der Zwiespalt zwischen politischer Erwartung und empirischer Realität. Entsprechend waren die geladenen Gäste: Corinne Schmidhauser (ehemalige Skirennfahrerin, aktuelle Leiterin der Sportschule Feusi und Grossrätin der FDP Kanton Bern), Andrea Zryd (Sportlehrerin und Präsidentin des Dachverbandes Bern Sport sowie Grossrätin der SP Kanton Bern) und Matthias Remund (Direktor des Bundesamts für Sport BASPO).

Sie waren nicht dabei? Die erste Podiumsdiskussion können Sie in voller Länge unter diesem Link nachschauen.     

Diskutiert wurde unter anderem über folgende Themen:

  • Sportpolitik: Wie sieht frühe, altersgerechte Sportförderung aus? Sporttag mit oder ohne Ranglisten? Wie können die Grundlagen für den Zugang zum Sport geschaffen werden? Und reicht die Schweizer Sportinfrastruktur aus?  
  • Nationales Sportanlagenkonzept (NASAK): Soll der Bund den Breitensport fördern? Und falls ja, wie? Ohne das föderalistische oder subsidiäre Prinzip zu verletzen… Und nur so am Rande: Wie sähen wohl die sportpolitischen Entscheide aus, wenn Magglingen im Kanton Graubünden läge?
  • Der Schweizer Sport hat genug Geld, oder? Finanzielle Mittel im Schweizer Sport, die mal gesprochen werden und mal nicht.
  • Stadt-Land-Differenzen: Braucht es eine Kulturveränderung im Sportverein? Welche Rolle spielen informelle Bewegungsmöglichkeiten?
  • Das Problem mit den Wartelisten bei Clubeintritten: Müssen die Sportangebote niederschwelliger sein? Braucht es denn für jedes Sportangebot eine anerkannte Trainerausbildung?
Corinne Schmidhauser, Matthias Remund, Andrea Zryd, Ulrike Burrmann und Claudio Nigg (v.l.n.r.) diskutieren mit der Moderatorin Susy Schär und dem Publikum über Potentiale des Sports.
Corinne Schmidhauser, Matthias Remund, Andrea Zryd, Ulrike Burrmann und Claudio Nigg (v.l.n.r.) diskutieren mit der Moderatorin Susy Schär über Potentiale des Sports.Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Passivsport und Bewegungsarmut

Die abschliessende zweite Podiumsdiskussion fand mit allen Referierenden und Gästen sowie unter Einbezug der Publikumsfragen statt.

Sie waren nicht dabei? Auch die zweite Podiumsdiskussion können Sie in voller Länge unter diesem Link nachschauen.    

Die Themen waren unter anderem:

  • Fokus auf die Nicht-Sporttreibenden: Gesundheitsinterventionen müssen für diejenigen konzipiert werden, die Fussball nur schauen und nicht spielen.
  • Wer ist für Übergewicht und Adipositas verantwortlich? Die Rolle des Staates versus die Eigenverantwortung der Bevölkerung.
  • Obligatorischer Sportunterricht: Gesetzliche Vorgaben sind schön und gut, aber auf welchen Schulstufen hapert es? Und sollten Primarlehrpersonen nicht auch (besser) ausgebildete Sportspezialist:innen sein?
  • Setting Sportunterricht: Wie motiviert man jugendliche Sportmuffel? Und muss man das Setting des (obligatorischen) Sportunterrichts vielleicht überdenken?

Zum Autor

Raphael Stieger studiert Sportwissenschaft an der Universität Bern