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Ein Kamera-Display zeigt die Aufnahme einer Podiumsdiskussion: In einem Hörsaal stehen 6 Menschen an Stehtischen und diskutieren gemeinsam.
Sportkarrieren im Fokus: Die Referierenden während der Diskussionsrunde mit dem Publikum. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Massenphänomen Sport – Ein Blick auf die wichtigste Nebensache der Welt

Im Zentrum der zweiten Veranstaltung zum Massenphänomen Sport standen der Spitzensport sowie Chancen und Risiken von Karrieren im Hochleistungssport.

Von Raphael Stieger

Der Spitzensport – nur ein Teil des Massenphänomens Sport und doch ein ganz bedeutender Teil. Als aktuelles Beispiel für die zentrale Bedeutung des Hochleistungssports führte Susy Schär, die auch die zweite Veranstaltung moderierte, die Olympischen Spiele 2021 an. «13 Medaillen hat die Schweiz geholt», honorierte sie die Leistung der Schweizer Delegation und hob sogleich hervor, dass 10 Medaillen von Frauen gewesen seien. So viele Medaillen holte die Schweiz zuletzt vor rund 70 Jahren in Helsinki. Doch wie wählt man denn die Besten einer Sportart aus und wie fördert man sie, sodass daraus Olympiasieger:innen entstehen?

Talentdiagnose und Talentförderung im Spitzensport

Die Antworten auf diese Fragen versuchte Achim Conzelmann, der seit 2005 Ordinarius am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern ist, zu geben. Auch wenn er selbst glaubt, «mehr Fragen als Antworten» zu liefern, zeigte er eindrücklich die Herausforderungen der Talentdiagnose und Talentförderung im Spitzensport auf.

Conzelmann skizzierte die Talentforschung als entwicklungstheoretisches Problem und ging zunächst auf die Entwicklung des Talentbegriffs ein. Früher sei man von einem engen und statischen Talentbegriff ausgegangen. Der heutige Forschungsstand plädiere für einen dynamisch-weiten Talentbegriff. «Dynamisch heisst, dass nicht nur einmal, sondern mehrere Male getestet wird», erklärte Conzelmann. Und weit bedeute, dass nicht nur motorische Merkmale erfasst und bewertet werden, sondern zum Beispiel auch psychologische wie die Leistungsmotivation. Das Problem eines solchen Verständnisses von Talent sei, dass man eine «Einkaufsliste von Talentkriterien» erhalte. In anderen Worten: Man hat nun viele Talentmerkmale vorliegen, doch wie gewichtet man sie? Können gewisse Kriterien mit anderen kompensiert werden? Und wie wird der Gesamtscore berechnet?

Die Antwort auf diese Fragen lautet: Ganzheitlichkeit und Personorientierung. Denn das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile. «Es geht nicht darum, Talentkriterien zu suchen, sondern Talente», strich Conzelmann hervor und argumentierte für einen personorientierten Zugang. Demnach sei nicht das Ziel, irgendwelche Talentmerkmale auszumachen, die aufsummiert in einem linearen Zusammenhang mit der sportlichen Leistung im Höchstleistungsalter stehen würden. Vielmehr sollen Talentprofile entdeckt werden, die zeitlich stabil seien – bis ins Höchstleistungsalter.    

Die Leistungsmotivation spiele hierbei eine wichtige Rolle. Anhand ausgewählter Befunde aus eigenen Studien zeigte Conzelmann auf, dass Hoffnung auf Erfolg, Aufgabenorientierung und Selbstbestimmung positiv mit sportlicher Leistung zusammenhängen. Konkret: Diejenigen Fussballspieler, die auf Erfolg gehofft haben und selbstbestimmt besser werden wollten, wurden nicht nur überzufällig U-Nationalspieler, sondern sind auch überzufällig Profi-Fussballer geworden. Der Leistungsmotivtyp sei also ein wichtiger Prädiktor für späteren Erfolg und damit ein wichtiges Talentmerkmal.

Abschliessend ging Conzelmann auf die dogmatische Diskussion über frühzeitige Spezialisierung in einer Sportart oder Polysportivität ein. Spitzensportler:innen liessen sich auf beiden Seiten als Beleg anführen. Auf der einen Seite Marlen Reusser, die lange Hobby-Ausdauersportlerin war und nun in Tokio im Zeitfahren Olympiazweite wurde. Auf der anderen Seite Tennis-Olympiasiegerin Belinda Bencic. «Es ist nicht ganz klar, ob Vater Bencic die Karriere seiner Tochter vor oder nach der Geburt initiiert habe», merkte Conzelmann schelmisch an. «Sicher nicht viel nach der Geburt», gab er gleich selbst die Antwort. Die Frage der frühzeitigen Spezialisierung oder Polysportivität könne jedoch nicht allgemein beantwortet werden, sondern nur in Abhängigkeit von der Sportart und der Person. So könne eine relativ frühe Spezialisierung in kompositorischen Sportarten wie zum Beispiel dem Kunstturnen unter Umständen sinnvoller sein als in Konditionssportarten wie beispielsweise dem Velofahren. In Spielsportarten wie dem Fussball sei «specialised sampling» zu befolgen, was die Spezialisierung auf eine Sportart, innerhalb dieser aber ein breites Spektrum an unterschiedlichen Settings meint. Aus einer eigenen Studie sei nämlich hervorgegangen, dass Fussballer, die neben dem Vereinstraining sehr viel Zeit mit freiem Fussballspiel – dem sog. «Strassenfussball» – verbrachten, später eher auf internationalem Top-Niveau spielten. Generell vertritt Conzelmann die Ansicht: Spezialisierung so spät wie möglich, aber so früh wie nötig.

Professor Achim Conzelmann steht während einem Referat vor dem Publikum in einem Hörsaal.
«Es geht nicht darum, Talentkriterien zu suchen, sondern Talente», betonte Achim Conzelmann. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Chancen und Risiken von Sportkarrieren

Wer kennt die Chancen und Risiken einer Sportkarriere besser als ein sportliches Multitalent, das auf internationalem Level 21 Medaillen im Triathlon und Duathlon gewann und auf nationalem Level im Tandem Cycling, an Funruns und Squash-Meisterschaften triumphierte? Die Rede ist von Sarah Springman, die heute ordentliche Professorin für Geotechnik und Rektorin der ETH Zürich ist. Sie legte eine Sportkarriere hin, wovon die meisten nur träumen dürfen. Doch was ist die Kehrseite der Medaille?  

Springman, die 1983 ihren ersten Triathlon lief, ist überzeugt, dass der Sportart Triathlon an Olympischen Spielen eine wichtige Rolle zukommt. Der Austragungsort könne sich mit ausgewählten Sehenswürdigkeiten von seiner besten Seite zeigen und so um Tourist:innen aus aller Welt werben. Auch für die Athlet:innen sei es etwas ganz Besonderes, zum Beispiel der Copacabana entlang zu rennen wie 2016 in Rio. Mit Wettkämpfen einher gehe aber immer auch ein Regelwerk und allfällige Regeländerungen. Das Regelwerk beeinflusse nämlich, welche Athlet:innen erfolgreich sein werden. Als Beispiel nannte Springman die Windschatten-Regel. Und gerade bei den Paralympischen Spielen seien das Regelwerk und die vorzunehmenden Kategorisierungen unglaublich schwierig. «Man spielt Gott», sagte sie und verwies beispielhaft auf die Beurteilung des Schweregrads von Amputationen. Darüber hinaus machen es steigende Ansprüche von Fans, Athlet:innen oder Funktionär:innen notwendig, die Sportart ständig neu zu erfinden. Dies sei stets mit Chancen für die einen, aber mit Risiken für die anderen Akteuren verbunden.     

Nicht nur im Triathlon, sondern im Sport insgesamt lässt sich eine zunehmende Professionalisierung und ein verstärktes Sponsoring beobachten. Am weit professionalisierten und kommerzialisierten Beispiel Fussball verdeutlichte Springman: «Früher brauchten die Spieler eine Karriere vor und nach, vielleicht sogar während ihrer Sportkarriere; heute nicht mehr». Auch Roger Federer, den sie als «GOAT» (Greatest Of All Time) bezeichnete, betrachtet Springman als Gewinner der zunehmenden Professionalisierung und steigender Sponsoringerträge im Sport. Doch nicht für alle gehe die Rechnung auf. Gerade im Tennis habe die grosse Mehrheit einen Riesenaufwand und viel Verzicht für sehr wenig Ertrag. Was demnach für wenige eine grosse Chance sei, sei für viele ein (finanzielles) Risiko.

Auch die sozialen Medien bringen positive und negative Aspekte mit sich. Als Vergleich präsentierte die ehemalige Triathletin zwei Zeitungsartikel über ihre Person und zwei Instagram-Beiträge der Basketball-Legende LeBron James. Die Zeitungsberichte stufte sie als «sehr low level» ein und strich hervor, welch grossen Einfluss und welche Reichweite heutzutage Sportler:innen dank der sozialen Medien haben. Damit hätten die Athlet:innen selbst eine Plattform, Gutes zu tun oder für Gutes einzustehen, was der Instagram-Beitrag von James über die Black Lives Matter-Bewegung veranschauliche. Diese neue Macht der Sportler:innen sei aber auch eine grosse Herausforderung für die Vereine und nationale wie internationale Verbände. «Die Welt hat sich verändert», stellte Springman fest. Als Negativbeispiel der sozialen Medien nannte sie die medialen Angriffe auf die drei dunkelhäutigen englischen Fussballspieler, die im Finale der Europameisterschaft 2021 ihre Elfmeter verschossen hatten. «Disgusting», sei das einzige Wort, das sie dafür übrighabe. Umso schöner seien dafür die vielen aufmunternden Reaktionen gewesen, die auf die mediale Hetzjagd folgten. Die sozialen Medien liessen demnach die Grenze zwischen «Opfer oder Held» verschwimmen.

Zum Abschluss richtete Springman den Blick auf das Karriereende. Die einen hätten mehr Mühe mit der Umstellung, die anderen weniger, wie das Beispiel Martina Hingis zeige. Die ehemalige Tennisspielerin ist nun auch erfolgreiche Geschäftsfrau. Es gehe darum, auch nach der Sportkarriere (neue) Ziele zu setzen und neue Wege zu gehen. Dass dies nicht einfach sei, liege auf der Hand. Das Umfeld und die Rahmenbedingungen seien hierbei von zentraler Bedeutung. Vor allem die Familie könne «wahnsinnig wichtig» sein, was Springman bei der erfolgreichen Triathletin Nicola Spirig bestätigt sieht. Auch hinsichtlich der Vereinbarkeit von Spitzensport und Universität seien die Athlet:innen vom Umfeld abhängig. «Die Rolle von Swiss Olympic ist hier sehr wichtig», schloss Springman ab.

Professorin Sarah Springman während ihrem Referat in Bern. Hinter ihr ist die Projektion ihrer PowerPoint-Präsentation sichtbar. Sie zeigt die fünf Olympischen Ringe und den Titel «Steigende Ansprüche, Olympische Sehnsucht».
Im Sport insgesamt lasse sich eine zunehmende Professionalisierung und ein verstärktes Sponso-ring beobachten, so Sarah Springman. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Doping: Gegen Gesundheit und Fairness

Der Sport, vor allem der Hochleistungssport, ist geprägt vom binären Code Sieg oder Niederlage. Um Sieg, Ruhm und Anerkennung zu erlangen, wird leider immer wieder zu unlauteren Methoden gegriffen – zum Beispiel Dopingsubstanzen. Matthias Kamber, der ehemalige Direktor der Stiftung Antidoping Schweiz, kennt sich bestens mit der Dopingbekämpfung aus. Er setzt sich noch heute für einen «sauberen Sport» ein und teilte sein Wissen und seine Erfahrungen mit den Anwesenden.

«Doping gab es schon in der Antike. Und trotzdem haben wir das Problem heute immer noch nicht gelöst», konstatierte Kamber gleich zu Beginn. Seiner Meinung nach habe das auch damit zu tun, dass unentdecktes Doping eine Win-Win-Situation für alle darstelle: Sportler:innen bringen bessere Leistungen, das verspricht mehr Attraktivität, und dadurch steigt das Zuschauer- und Medieninteresse. Die Verflechtungen seien also komplex und das mache es «schwierig, das Netzwerk hinter einem Dopingfall zu entdecken». Mit Blick auf die Geschichte der Dopingbekämpfung müsse festgehalten werden, dass der Sport stets nur reagiert habe, aber nie vorausschauend oder konsequent gehandelt. Heute spielen unabhängige Agenturen – wie zum Beispiel die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) – eine zentrale Rolle in der Dopingbekämpfung.

Gemäss einer Bevölkerungsumfrage aus dem Jahr 2014 ist das gesellschaftliche Meinungsbild hinsichtlich Sport und Doping eindeutig: Sport hat einen positiven Einfluss auf die Entwicklung Jugendlicher und Sportstars haben vor allem für Jugendliche eine Vorbildfunktion. Gleichzeitig wird Doping als Hauptproblem im Sport angesehen, das in keinerlei Hinsicht positive Assoziationen hervorruft und daher streng verboten werden soll. «Doping gehört gemäss der Bevölkerung nicht in den Sport», fasste Kamber die Ergebnisse zusammen.  

Inwiefern die heutige Dopingbekämpfung fair ist, sei schwierig zu beantworten. Die Gründung der WADA habe sicherlich einen Beitrag zur Harmonisierung geleistet. Dennoch sei die staatliche Gesetzgebung nicht überall gleich. Dies sei mitunter ein Grund, warum zum Beispiel «in Deutschland und Österreich sehr viel mehr bewirkt werden kann». Insgesamt sei es heutzutage schwierig, einen Dopingfall zu bewerten: Ist es tatsächlich Doping? Oder liegt eine Kontamination vor? Oder gar ein Sabotageakt?

Kamber ist aber überzeugt: «Eine Freigabe wäre keine Lösung». Es dürfe nämlich nicht vergessen werden, dass Sport nicht nur Spitzensport sei. Darüber hinaus werde der Sport mit Steuergeldern unterstützt. Der Gedanke, dass Bürger:innen mit ihrem Geld einen durch Doping bestimmten Spitzensport unterstützen, sei für ihn nicht nur unvorstellbar, sondern auch falsch. Zudem würde die Mehrheit der Sporttreibenden eine Freigabe ablehnen; sie wollen «einen sauberen Sport».  

Eine effektive Dopingbekämpfung sieht Kamber vielmehr im Dreigespann «Prävention, Abschreckung und Nachweis». Mittels Prävention und Information könne etwa die Hälfte der Sporttreibenden vom Doping ferngehalten werden. Jede:r Zehnte werde dank der Kontrollen erwischt. Und die übrigen rund 40% könnten sich sowohl in die eine als auch in die andere Richtung bewegen. «Hier braucht es neue Lösungen», forderte Kamber. Denn gemäss australischen Forscher:innen sei der moralische Hintergrund resp. das ethische Umfeld ein entscheidender Prädiktor, ob jemand zu Dopingsubstanzen greift oder nicht. Verständliche Informationen und konsequente Umsetzung seien demnach in der zukünftigen Dopingbekämpfung von elementarer Bedeutung.

Dr. Matthias Kamber während seinem Referat zum Thema Doping. Im Vordergrund des Bildes steht ein grosser Strauss mit Sonnenblumen.
«Eine Freigabe wäre keine Lösung», betonte Matthias Kamber, ehem. Direktor Antidoping Schweiz. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Leistungssport – und dann? Erste Podiumsdiskussion

In der ersten Podiumsdiskussion ging es um die Chancen und Risiken einer Leistungssportkarriere aus der Perspektive ehemaliger Spitzensportler:innen. Die Gäste waren niemand Geringeres als die ehemals national wie international erfolgreichen Nadine Beck (Beachvolleyball) und Andy Egli (Fussball).

Sie können die Diskussion auf dem YouTube-Kanal des Forums für Universität und Gesellschaft (erneut) anschauen: https://bit.ly/beck-egli-podium

Diskutiert wurde über:

  • …den sehr hohen Aufwand während einer Leistungssportkarriere.
  • …den Wunsch, Profisportler:in zu werden.
  • …die Professionalisierung im Sport.
  • …die Frage der Selbständigkeit von Spitzensportler:innen.
  • …das Leben nach der Leistungssportkarriere.
  • …Sport als Lebensschule.

Das Spiel(en) lieben – Zweite Podiumsdiskussion

Die zweite Podiumsdiskussion fand mit allen Referierenden und unter Einbezug von Publikumsfragen statt. Auch diese Diskussion können Sie unter folgendem Link (erneut) anschauen: https://bit.ly/karrieren-spitzensport

Themen waren:

  • Olympische «Amateur-Spiele» nach Coubertin vs. die heutigen Olympischen Spiele
  • «Das Spiel(en) lieben» (Conzelmann): Ohne intrinsische Motivation geht es nicht.  
  • Sportförderung im Kindes- und Jugendalter: Spagat zwischen Wettkämpfe durchzuführen, aber das Ergebnis nicht überbewerten.
  • Eltern als Problem: Wenn Kinder etwas erfüllen sollen, was die Eltern nicht erreicht haben.
  • Supplemente: Wieso aus Angst vor Doping nicht auf sinnvolle Supplemente verzichtet werden soll.
  • «Kinderarbeit»: Olympiasieger:innen mit 13, 14 Jahren…
  • Aktuelle Schweizer Dopingfälle: Doping, Kontamination oder Sabotage?
  • Leistungsbegriff: Muss und soll es im Sport denn immer und überall Höchstleistung sein?
Sarah Springman, Andy Egli, Matthias Kamber, Nadine Beck und Achim Conzelmann diskutieren mit der Moderatorin Susy Schär. Sie stehen an Stehtischen mit weissen Tischtüchern, im Vordergrund ist ein Teil des Publikums sichtbar.
Sarah Springman, Andy Egli, Matthias Kamber, Nadine Beck und Achim Conzelmann (v.l.n.r.) diskutieren mit Susy Schär und dem Publikum. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Zum Autor

Raphael Stieger studiert Sportwissenschaft an der Universität Bern