Forum für Universität und Gesellschaft

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Drei Menschen diskutieren an Stehtischen. Die Frau in der Mitte spricht, die beiden Herren links und rechts hören ihr zu.
Sport als wichtigste Nebensache der Welt? Siegfried Nagel, Josephine Clausen und Walter Mengisen (v.l.n.r.) diskutieren unter anderem über diese Frage. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Massenphänomen Sport - Ein Blick auf die wichtigste Nebensache der Welt

Wie die Olympischen Spiele in Tokio fanden die Gespräche des Forums für Universität und Gesellschaft in Bern pandemiebedingt mit einem Jahr Verspätung statt. Der erste Abend stand unter dem Titel «Sport und Gesellschaft».

Von Marcus Moser

Die Pandemie habe allen die Bedeutung sportlicher Betätigung neu vor Augen geführt, meinte Virginia Richter, Präsidentin des Forums für Universität und Gesellschaft in ihrer Begrüssung. «Wenn wir nicht hätten radeln, laufen oder schwimmen können, wären einige in dieser Zeit wohl verrückt geworden.» Sie freue sich, dass die Berner Forumsgespräche nun mit Publikum, aber auch als hybride Veranstaltung mit Übertragung ins Internet stattfinden können. Sport sei für viele in der Pandemiezeit eine willkommene Kompensation gewesen. Aber es gebe Ambivalenzen, wie die Fussball-EM oder eben die Olympischen Spiele mit ihren Verflechtungen von Sport, Kommerz und Politik gezeigt hätten.

Darum werfe das Forum diesen Blick auf die «wichtigste Nebensache der Welt» betonte seinerseits Projektleiter Siegfried Nagel in seinem Überblick über die drei Veranstaltungen. «Sport fasziniert die Menschen in der modernen Gesellschaft. Sie schenken ihm Zeit und Geld, Energie und Emotion.» Die Bedeutung von Sport habe stetig zugenommen, so Nagel. In der Schweiz treibe heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung regelmässig Sport. Sport sei also wahrlich ein Massenphänomen, das sich zu hinterfragen lohne.

Sport: Vom Rand- zum Massenphänomen

«Sport» ist ein relativ junger Begriff, er stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts», stellte Walter Mengisen, ehemaliger Rektor der Eidg. Hochschule für Sport in Magglingen, gleich zu Beginn seines historischen Abrisses fest. Je nach Gesellschaftsform und Zeitgeist seien unterschiedliche Aspekte des Phänomens über die Jahrhunderte im Vordergrund gestanden: psychische, pädagogische, soziale oder biologische Sichtweisen. Mengisen zeichnete die historische Entwicklung des Sports zum Massenphänomen anhand einiger Schlaglichter nach, nicht ohne den Blick auf die Schweiz zu vergessen.

Es war einmal: 776 v. Chr. in Olympia

Von einer Massenveranstaltung könne bei den ersten olympischen Spielen durchaus gesprochen werden, jedenfalls was die rund 40'000 Zuschauer angehe. Athleten – es waren ausschliesslich Männer – gab es im Stadion wenige. «Es waren Zuschauer und Politiker, die sich da präsentiert haben», bemerkte Mengisen mit einem scharfen Seitenblick auf die jüngste Gegenwart. Viele blieben damals aber ausgeschlossen: Alle Frauen, Ausländer, weite Teile der Gesellschaft; nur freie griechische Bürger hatten Zugang.

Vom Ritual zum Rekord

Eine markante Zäsur brachte das englische Sportverständnis im 19. Jahrhundert: Nicht Rituale, sondern Rekorde standen bald im Zentrum (Allan Guttmann). Eingeleitet wurde der Bruch durch eine weitreichende Säkularisierung, vorangetrieben auch dank mutiger Frauen. Als Merkmale des modernen Sports kamen hinzu: Rationalisierung, Quantifizierung, Rollenspezialisierung. «Merkmale der Industrialisierung wurden auf den Sport übertragen» unterstrich Mengisen. «Das ist erstaunlich, sehen wir Sport heute doch oft als Gegenentwurf zu unserer mechanistischen, informatischen Welt.» Die Quantifizierung führte zum Streben nach Rekorden. Zum modernen Sportverständnis gehört der Versuch, Chancengleichheit zu erzielen. «Beim 100 Meter-Lauf machen wir alles, um die Chancengleichheit zu gewährleisten. Wer zu früh startet, wird disqualifiziert. Am Ende machen wir alles, um einen Unterschied zu haben. Das ist der moderne Sport in Kurzform» brachte es Walter Mengisen auf den Punkt.

Der Staat als Sportförderer

Bald spielte auch der Staat zur Verbreitung des Massenphänomens Sport seine Rolle. Mengisen thematisierte zur Verdeutlichung die Olympiade in Berlin (1936) und den phänomenalen «Jesse» Owens, der vielen einen Strich durch die Propagandapläne machte. Zur Schweiz: Mit der Militär-organisation von 1874 führte der Schweizer Staat für 10- bis 15-jährige Knaben das obligatorische Schulturnen ein. Für Mädchen galt das Turn-Obligatorium erst ab 1916. «Im Vordergrund stand die militärische Ertüchtigung», so Mengisen, «aber es gab auch pädagogische und gesundheits-spezifische Überlegungen», was sich in der zeitgleichen Schaffung einer Eidg. Turnkommission als Beratungs-gremium für die Regierung gezeigt habe. 1970 wurde die Sportförderung im Artikel 68 der Bundes-verfassung verankert. Seither gilt die Förderung des Sportes als Staatsaufgabe, was sich nur wenig später auch in der Gründung und Unterstützung des Programms «Jugend und Sport» manifestierte, das heute mit rund 100 Millionen Franken jährlich alimentiert wird.

Sportpyramide und Differenzierung

Die traditionelle Darstellung des Sports in Form einer Pyramide mit Freizeitsport (Basis), Breitensport und Spitzensport helfe zum Verständnis des Massenphänomens heute nicht mehr weiter, unterstrich Walter Mengisen. Zu differenziert und gleichzeitig zu abhängig seien die Bereiche. Mediensport, Leistungssport, Freizeitsport, Alternativsport und instrumenteller Sport ergänzten und überlagerten sich, was die Analyse komplex mache.

Mediatisierung und Ökonomisierung

«Die Mediatisierung ist einer der Haupttreiber des Sports als Massenphänomen». Walter Mengisen erörterte die Entwicklung anhand der Kosten für die Fernsehrechte bei Olympischen Spielen. Betrugen diese in Rom (1960) noch 400'000 Dollar, machten sie rund 20 Jahre später für Los Angeles (1984) 225 Millionen Dollar aus. Für Beijing (2008) waren es 1.4 Milliarden Dollar und für Pyeongchang und Tokyo (2021) wurden geschätzte 4.5 Milliarden Dollar verlangt.
Schneller, höher, stärker: Entsprechend dem Olympischen Motto verlief auch die Kostenentwicklung der Spiele. Die von Walter Mengisen gezeigten Zahlenreihen waren schwindelerregend. Kostete London (2012) geschätzte 14 Milliarden Franken, geht er für Tokyo (2021) von 25 Milliarden aus. 11'000 Athlethinnen und Athleten massen sich dort in 33 Sportarten und 339 Wettbewerben. Immerhin war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Tokyo nun ausgeglichen. (Als redaktionelle Ergänzung: Pünktlich zu den Olympischen Spielen in Tokio hat das IOC das Olympische Motto ergänzt: Schneller, höher, stärker, gemeinsam.)

Sport Schweiz 2020

Und die Schweiz? Die wird gemäss jüngsten Umfragen offenbar immer sportlicher: Über die Hälfte der Wohnbevölkerung über 15 Jahren gebe inzwischen an, regelmässig Sport zu treiben, referierte Mengisen. Der Anteil derer, die gar keinen Sport treiben, nehme stetig ab. «Die Antworten wider-spiegeln auch die soziale Erwünschtheit», gab Walter Mengisen zum Schluss seiner Ausführungen zu bedenken.

«Die Mediatisierung ist einer der Haupttreiber des Sports als Massenphänomen», betonte Walter Mengisen. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Sport und Wirtschaft

«Stellen Sie sich vor: Es sind Olympische Spiele und (fast) keiner geht hin!» Was vor zwei Jahren noch undenkbar schien, sei nun passiert. Warum? Josephine Clausen, Sportökonomin bei EBP, themati-sierte in ihrem Referat die Bedeutung der Sportwirtschaft. «Die Spiele fanden statt, weil einige der Akteure bei einer Absage massive finanzielle Einbussen erlitten hätten». So kämen die Einnahmen des Internationalen Olympischen Komitees IOC vorrangig aus dem Verkauf von Übertragungsrechten und Sponsoringeinnahmen. Ein Teil dieser Einnahmen werde dann aber umverteilt: An grosse Sportverbände und nationale olympischen Komitees, die ihrerseits wiederum den Sport in den verschiedenen Dimensionen fördern sollten. Am Ende also profitierten viele – und viele haben vieles zu verlieren.

Sportliche Schweiz, Sportwirtschaft Schweiz

Die Schweiz könne sich rühmen, eine sehr sportliche Nation zu sein, meinte Clausen. Der Anteil jener, die nie Sport treiben, sei in rund 30 Jahren von 30 Prozent auf 16 Prozent (2020) gesunken. Eine der Folgen: Sport ist nicht nur eine beliebte Freizeitaktivität, sondern auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. «Die Sportwirtschaft ist aber – wie Tourismus oder Kultur – kein herkömmlicher Wirtschaftszweig, sondern eine Querschnittsbranche und damit nicht direkt aus amtlichen Wirtschaftsstatistiken abzuleiten», erläuterte Clausen. So werde beispielsweise der Detailhandel mit Sportwaren zum Handel gezählt, die wirtschaftlichen Folgen von Sportunfällen gehörten zum Gesundheitsbereich.

Abhilfe schafft die seit 2008 periodisch durchgeführte Studie «Sportwirtschaft Schweiz» mit dem Ziel, die direkte ökonomische Bedeutung des Sports in der Schweiz zu erheben. Insgesamt sei die Sportwirtschaft von 2005 bis 2017 gewachsen, erörterte die Sportökonomin. Die Bruttowertschöpfung habe um 27 Prozent zugelegt, die Beschäftigung um 13 Prozent. «Damit ist die Bruttowertschöpfung der Sportwirtschaft mit jener des Maschinenbaus vergleichbar, die Beschäftigung mit jener der Agrarwirtschaft», so Clausen.

Aber was sind die Treiber, was die Bremser der Sportwirtschaft? Von 2005 bis 2008 waren Treiber gemäss Clausen die Sportdienstleistungen (EM, Olympische Sommerspiele), anschliessend bremste die Weltfinanzkrise die Sportwirtschaft ein. Ab 2011 gab es eine Erholung – unter anderem Dank eines Booms bei den Gymnastik- und Fitnesscentern. Ab 2014 war es das Wachstum der internationalen Sportverbände (bis 2017), das die Sportwirtschaft antrieb. Zwar gebe es in der Schweiz rund 19'000 Sportvereine, aber es seien die drei Grossen, die ins Gewicht fielen. UEFA, FIFA und IOC erreichten rund 45 Prozent der Wertschöpfung der Sportverbände der Schweiz.

Welche Auswirkungen wird die Corona-Pandemie auf die Schweizer Sportwirtschaft haben? Aus den Statistiken liesse sich das noch nicht herauslesen, erläuterte Clausen. Aber es gäbe Hinweise. In der Schweiz würden jährlich 23'000 Sportveranstaltungen durchgeführt. Viele hätten abgesagt werden müssen. «Die Struktur der Sportwirtschaft lässt vermuten, dass sich die Absagen und Verschiebungen in den Rechnungen niederschlagen werden», meinte Clausen. Ebenso sei der Bereich Sportanlagen betroffen, speziell die Fitnessstudios. Nach dem Boom in den Jahren 2011-2014 drohe wegen Covid-19 nun eine Pleitewelle. Die Schliessungen und Kapazitätseinschränkungen führen zu Einnahmeeinbrüchen, die vor allem für Einzelunternehmen existenzbedrohend seien. Anders präsentiert sich der Bereich Sportproduktion. «Die Schweiz erlebt einen Veloboom, insbesondere für E-Bikes. Das Verkaufsplus beträgt rund 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr».

 

«Die Spiele fanden statt, weil einige der Akteure bei einer Absage massive finanzielle Einbussen erlitten hätten», so Josefine Clausen in ihrem Referat. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Sportvereine als gesellschaftliche Hoffnungsträger?

«Der Anteil kommerzieller Anbieter im Fitness- und Gesundheitssport hat klar zugenommen», bestätigte Siegfried Nagel, Professor am Institut für Sportwissenschaft der Universität Bern. «Sportvereine sind aber nach wie vor die wichtigsten Träger des organisierten Sports in der Schweiz. Der Kinder- und Jugendsport wäre ohne die 19’000 Sportvereine kaum denkbar». Sportvereine seien eben selber ein Massenphänomen, so Nagel. Mit rund 2 Millionen Aktivmitgliedern, davon rund 335'000 Ehrenamtliche, sei fast ein Viertel der Wohnbevölkerung der Schweiz in Sportvereinen engagiert.

Sportvereine sind also ein Erfolgsmodell. Aber es gebe Einwände, wie Nagel erörterte: Aus Teilen der Freizeitforschung, die Vereinssport bereits seit den 1980er Jahren als Auslaufmodell bezeichneten. Aus den Sportvereinen selber, die über Schwierigkeiten der Mitgliedergewinnung und-bindung genauso klagten wie über wachsende Finanzprobleme. «Gesellschaftliche Entwicklungen wie Individualisierung, gewachsene Dienstleistungsorientierung und Kundenmentalität passen offensichtlich nur bedingt zum traditionellen Organisationsmodell Sportverein. Viele wollen dann Sport treiben, wenn sie Lust darauf haben und sie sind bereit, dafür zu bezahlen», so Nagel.

Dennoch geniessen Sportvereine eine grosse Wertschätzung und gelten von ihrer Wertebasis her als gesellschaftliche Hoffnungsträger: mit demokratischen Entscheidungsstrukturen, Autonomie, Ehrenamtlichkeit und Nonprofit-Orientierung. Aber auch mit grossem Potential für die soziale Integration, die Sozialisation und Werteentwicklung – und nicht zuletzt – für die Gesundheitsförderung.

Ist das nun gerechtfertigt? Können Sportvereine diese hohen Erwartungen erfüllen? Zum Teil ja, wie Siegfried Nagel am Beispiel eigener und fremder sportwissenschaftlicher Untersuchungen ausführte. Sportvereine als «Kitt der Gesellschaft»? Am Beispiel von Fussballvereinen: Ja, die soziale Integration findet statt; Sportvereine fördern freundschaftliche Kontakte; Geselligkeit und Anlässe im Team haben eine wichtige Bedeutung. Aber: Frauen sind noch unterrepräsentiert – nicht nur in Fussballvereinen. Und: Sprachbarrieren bleiben und führen nicht selten zu Formen der Ausgrenzung.
Ähnliche Befunde kennzeichnen die weiteren Dimensionen. Sozialisationsinstanz? Ja, aber. Gesundheitsförderer? Ja, aber. Schulen der Demokratie? Ja, aber. Siegfried Nagel: «Sportvereine organisieren in ihrem Kerngeschäft Sportaktivitäten für ihre Mitglieder und sie leisten einen Beitrag zum Gemeinwohl». Dieser Beitrag sei allerdings häufig ein Nebeneffekt, der stärker akzentuiert werden könnte. Damit seien Sportvereine gesellschaftliche Hoffnungsträger, die noch mehr leisten könnten. Doch wie?

Eine Stärkung der Qualitätsorientierung und Professionalisierung wäre nach Nagel denkbar, konkurriert dann aber die Ehrenamtlichkeit. Staatliche Anreizprogramme zur Stärkung der Integrationsleistung hätten in einigen Feldern Erfolge erzielt – Stichwort Fussball – sie stehen aber der Vereinsautonomie entgegen und müssen vereinsintern akzeptierbar sein, zum Beispiel durch die Aussicht auf mehr Mitglieder.

Siegfried Nagel zeigte sich überzeugt, dass der Vereinssport auch in einer individualisierten und digitalisierten Gesellschaft seine Vorteile ausspielen kann. «Eine traditionelle Vereinsstruktur kann durch ihre Stabilität Vorteile bringen. Aber die Sportvereine müssen auch flexibel sein und die Sportangebote und Organisationsweisen den neuen Anforderungen anpassen.»

«Sportvereine sind nach wie vor die wichtigsten Träger des organisierten Sports in der Schweiz», stellte Siegfried Nagel fest. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Wir müssen nicht Sport treiben! Diskussion

In der abschliessenden Diskussion, moderiert von Susy Schär, wurde eine Vielfalt von Fragen aufgeworfen und erörtert. Themen waren:

  • Stärkung der Ehrenamtlichkeit: Durch verstärkte Anerkennung oder monetäre Abgeltung? Durch Ämterteilung und Freiwilligenmanagement?
  • Der Beitrag der politischen Gemeinden an die Vereinstätigkeit: faire Infrastrukturleistungen, Zusammenarbeit für stärkere Integrationsleistungen.
  • Einzel- und Gruppensport ohne Organisationsstrukturen und Vereine: Das geht! Die Suche nach neuen Unterstützungsformen ausserhalb der Vereinsorganisation für Ad-hoc oder Spontangruppen.
  • Fehlende Nachhaltigkeit, übertriebene Mobilität: Herausforderungen für den Sport.
  • Sport und Mediatisierung: Abnahme der TV-Bedeutung insbesondere bei jüngeren Menschen, Zunahme der sportlichen Selbstdarstellung im Web.
  • Trendsport, Extremsport, Redbull und Marketing.
  • Sport als wichtigste Nebensache der Welt? Es muss nicht jede und jeder Sport treiben. Auch ein Instrument spielen ist schön!

Sie können die Diskussion auf dem Youtube-Kanal des Forums für Universität und Gesellschaft mitverfolgen: https://bit.ly/sport-und-gesellschaft

 

Zum Autor

Marcus Moser arbeitet als Geschäftsleiter am Forum für Universität und Gesellschaft.