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Katja Gentinetta steht während ihrem Referat «Schweiz: Die Souveränität neu denken» hinter einem Rednerpult.
Katja Gentinetta, Politphilosophin und Autorin: «Die Geopolitik steht auf der politischen Agenda wieder ganz oben.» © FUG / Stefan Wermuth

Schweiz: Die Souveränität neu denken

Der völkerrechtswidrige russische Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 markiert für viele eine Zeitenwende. Das Forum bat die Politphilosophin und Autorin Katja Gentinetta zu einer Interpretation der schweizerischen Souveränitätsdiskussion vor diesem Hintergrund.

Von Katja Gentinetta

«Die «Zeitenwende» ist eine Zäsur. Waren die Jahrzehnte seit dem Mauerfall geprägt von der Vorstellung, dass sich Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft dauerhaft und global durchsetzen würden, markiert der Einmarsch Russlands in die Ukraine ein Ende dieser Illusionen. Auch ist die Idee vom «Wandel durch Handel», wonach auf eine wirtschaftliche Verflechtung die Demokratisierung gleichsam automatisch folgt, gescheitert. Kriege gehören – auch auf europäischem Boden – nicht der Vergangenheit an. Das System der kollektiven Sicherheit ist mit dem Verstoss Russlands gegen die UN-Charta gefährdet.

Die Geopolitik steht also auf der politischen Agenda wieder ganz oben. Russland bedroht Europa; China erhebt Anspruch auf die Vorherrschaft im asiatischen Raum; die Türkei vermittelt zwischen Russland und der Ukraine und unterstreicht ihren Anspruch als Regionalmacht zwischen Ost und West; die Konkurrenz zwischen Indien und China wird an der langen gemeinsamen Grenze mitunter auch hart ausgetragen. Die Pax Amerciana und damit die westliche Vorherrschaft neigen sich dem Ende zu. Autokraten weltweit manifestieren ihr Selbstbewusstsein, und sie schrecken auch vor Gewalt als Mittel der Politik nicht zurück.

Der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler geht in seinem neuen Buch «Welt in Aufruhr» (2023) davon aus, dass sich aus dieser Weltunordnung fünf regionale Pole herausbilden werden – ein Gleichgewicht der Mächte, das sich in der Geschichte offenbar immer wieder bewährt hat, besser als uni- oder bipolare Ordnungen. In Zukunft könnten dies sein: die USA (weiterhin) und Europa (hoffentlich) auf der demokratischen Seite, sodann China (neu) und Russland (da weiterhin eine Bedrohung), sowie Indien (als Zünglein an der Waage). Es führte zu weit, diese These im Einzelnen auszuführen. Entscheidend für unseren Kontext ist die Frage, was dies für das Verständnis von Souveränität bedeutet.

Die Wiederentdeckung der westfälischen Souveränität

Münklers Antwort darauf ist eindeutig: Hegemonen denken in Einflusssphären. Sie schaffen Abhängigkeiten, perfektionieren ihr Powerplay und sichern ihre Macht. Sie machen ihren Einfluss geltend und sorgen dafür, dass andere sich aus ihrer Sphäre heraushalten. Sie fordern somit die alte, westfälische Souveränität wieder ein. Es ist die Souveränität des gleichberechtigten Nebeneinanders, der Nichteinmischung, des Gewaltmonopols nach innen und aussen.

Die ursprüngliche Idee der Souveränität ist damit wieder hoch aktuell. Jean Bodin definierte sie als Festigung der Autorität nach innen durch Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung; für Thomas Hobbes bestand die zentrale und einzige Aufgabe des Souveräns darin, für Sicherheit zu sorgen, und zwar nach innen wie gegen aussen. Nicht zufällig entstanden beide Theorien in Zeiten von Kriegen: Bodin schrieb seine Six livres de la république (1576) im Zuge der Religionskriege; Hobbes verfasste seinen Leviathan (1651) aufgrund seiner Erfahrungen im englischen Bürgerkrieg. Etabliert wurde diese Form der Souveränität im westfälischen Frieden 1648 nach dem Ende des 30-jährigen Kriegs: als Prinzip der wechselseitigen Nichteinmischung.

Nun lässt sich einwenden, dass diese westfälische Souveränität seither immer galt. Tatsächlich bestand dieses Grundverständnis fort, wurde jedoch – nach 1989 und unter westlicher Führung – aufgeweicht. Als Beispiel sei die Resposibility to Protect, kurz R2P, genannt, die im Jahr 2005 beschlossene UNO-Resolution, die es den Vereinten Nationen erlaubt, in innerstaatliche Konflikte einzugreifen, wenn ein Staat selbst nicht in der Lage oder Willens ist, seine Bevölkerung vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Die Resolution kam im Bürgerkrieg von Libyen 2011 erstmals zum Einsatz. China und Russland enthielten sich der Stimme, kritisierten aber zusammen mit Indien und Brasilien «die Einmischung westlicher Staaten in die inneren Angelegenheiten Libyens». Ihr Stimmverhalten zeigt deutlich, wie sehr nicht-westliche Staaten eine Einmischung durch westliche Staaten über das UNO-System in ihre Innenpolitik befürchten.

Wir haben es bei der Souveränität also mit einem normativen Konflikt auf der internationalen Ebene zu tun, der so rasch nicht gelöst werden dürfte.

Klar ist, dass die aufstrebenden und unter ihnen die autokratischen Mächte die Gewinner einer solchen Normenverschiebung sind: Im besten Falle können sie – um es überspitzt zu sagen – in ihrem Innern schalten und walten wie sie wollen; im schlechtesten Fall müssen sie sich die lästigen Rügen und Aufforderungen des Westens, die Menschenrechte zu beachten oder demokratische Institutionen einzuführen, immerhin anhören, bevor sie diese unbeeindruckt ad acta legen.

Der Westen hingegen verliert doppelt: Nicht nur muss er sich das Scheitern seiner liberalen Mission eingestehen. Mehr noch gerät er in ein Wertedilemma, was die anderen Mächte angeht: Heisst es nun einfach wegschauen? Oder – worum man sich bisher drücken konnte – echte Konsequenzen ziehen? Etwa: Auf Handel mit diesen Staaten verzichten? Und damit auf billige Waren, grosse Absatzmärkte sowie Rohstoffe und Ressourcen überhaupt? Auf den Dialog als zentrales Instrument der Aussenpolitik ist in einem multipolaren Powerplay jedenfalls kein Verlass.

Hinzu kommt, dass sich die Aussenpolitik in Demokratien ungleich schwieriger gestaltet als in Autokratien. Nicht nur, weil in letzteren gar niemand nach seiner Meinung gefragt werden muss, sondern vielmehr, weil mit Aussenpolitik keine Wahlen zu gewinnen sind – die eigenen Interessen gehen im Zweifelsfall immer vor. Umgekehrt können Autokratien mit aussenpolitischen Avancen, vor allem Störmanövern – das heisst: Kriegen – von inneren Problemen ablenken und die nationale Einheit forcieren.

Am meisten aber verlieren in einem solchen System die Menschen: Jene, die ihren autokratischen Herrschern ausgliefert sind, zuallererst aber auch jene in den Demokratien, die – häufig zum ersten Mal in der Geschichte – spüren werden, in welchem Mass ihr Wohlstand auf einer stabilen und für den Handel offenen Welt beruht.

Ad-hoc-Koalitionen statt internationaler Kooperation

Aus globaler Sicht schliesst sich die Frage an, wie sich in einem solchen Machtgefüge globale Herausforderungen angehen lassen. Die Vermutung, dass sich konkurrierende Hegemonen nur schwer in gemeinsame Vorhaben einbinden lassen, liegt nahe. Dies zeigt sich beispielsweise am Kampf gegen die globale Erwärmung. Im Sinne einer «planetarischen Notwendigkeit» kann zwar durchaus von einem gemeinsamen Interesse die Rede sein. Bei der Umsetzung stehen sich jedoch – bereits heute und in einem Konkurrenzmodell voraussichtlich noch verschärft – ökonomische, geographisch bedingte und damit geopolitische Interessen gegenüber.

Auch aus diesen Erfahrungen etablieren sich seit geraumer Zeit verschiedene Formen von Ad-hoc-Koalitionen, die sich für spezifische Aufgaben zusammenfinden: «Kontaktgruppen», «Freundschaftsgruppen», «Koalitionen der Willen», «Clubs». Es sind Kooperationen, die gerade nicht auf bestehenden internationalen Organisationen aufbauen, sondern separate Strukturen bilden, sich nur geringfügig institutionalisieren und auch nur auf Zeit bestehen wollen – so lange, bis das gemeinsam gesteckte Ziel erreicht ist. In der Forschung wird dieser Trend als «Informalisierung», als «counter-multilateralism» oder gar als «effektiver Multilateralismus» bezeichnet.

Solche Ad-hoc-Formationen organisieren sich exklusiv. Ihr Zusammenschluss basiert auf einem gemeinsamen Interesse, geregelt in einer Mitgliedschaft mit Rechten und Pflichten, Privilegien und Beiträgen. Sie verlangen kein Abtreten von Souveränität, wohl aber die Verpflichtung, die gemeinsamen Regeln einzuhalten. Ein Austritt ist möglich, aber auch ein Ausschluss. Entscheidend ist der Zugang. Ohne Einladung geht nichts, und um diese muss man sich bemühen. Ein Recht auf Zutritt gibt es nicht.

Angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Trends ist nicht auszuschliessen, dass derartige Ad-hoc-Kooperationen das bestimmende Muster der Zusammenarbeit von Staaten im 21. Jahrhundert werden. Was ideal – weil möglicherweise effektiver – klingt, hat aber auch seine Schattenseiten: Solche Formationen sind durch nichts legitimiert – ausser durch die Bereitschaft der Mitwirkenden. Sie entbehren jeglicher völkerrechtlichen Grundlagen. Sie sind exklusiv – und damit ein bevorzugtes Instrument der mächtigen Staaten. Als Beispiel seien etwa die verschiedenen G’s genannt – die G7, G8 oder auch die G20, die sich als «wichtigstes Forum für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit» bezeichnet und sich explizit mit Finanzfragen befasst. Die Schweiz, obwohl auf Platz 20 der Rangliste der grössten Volkswirtschaften und ein wichtiger Finanzplatz, gehört nicht dazu. Sie ist auf die Einladung durch andere angewiesen. Sie hat solche Einladungen erhalten, jüngst von Indien, davor von Deutschland, Japan, aber auch schon Russland und China.

Ein souveränes Europa

Eine multipolare Welt der Hegemone, die auf Nichteinmischung pochen, und ein System der Ad-hoc-Koalitionen, das den Mächtigen in die Hand spielt: In einer solchen Welt hat die Schweiz wenig zu gewinnen.

Im Grunde hat sie zwei Optionen: Unabhängig, eigenständig und «souverän» zu bleiben und damit zum Spielball der Mächtigen zu werden, oder aber Teil und somit aktives Mitglied in einem geographisch und ideel naheliegenden Club zu werden – wobei die EU und, angesichts der Bedrohungslage, die NATO auf der Hand liegen.

Ich benenne diese zwei Optionen vollkommen emotionsfrei. Weil ich meine, dass wir sie in der Schweiz diskutieren müssen: ohne die Polemik der Nationalkonservativen, und ohne die Euphorie der Utopisten. Und auch nicht mit dem Zaudern des Bundesrats. Notwendig ist vielmehr ein nüchternes Risikokalkül: ein realistisches Abwägen von Chancen und Risken, Kosten und Nutzen. Dazu gehört auch, sich noch einmal daran zu erinnern, was uns so reich, so erfolgreich und so wohlhabend gemacht hat. Es sind ein Markt, der grösser ist als das Land, und ein System, das Mitbestimmung erlaubt – als Demokratie, beruhend auf Föderalismus und dem Prinzip der Subsidiarität.

Sollten sich die geopolitischen Spannungen nicht in einer neuen internationalen Minne auflösen – und davon ist auszugehen – wird sich Europa positionieren müssen. Um geeint zu sein, wird es eine stärkere Führung, aber auch demokratischere Prozesse brauchen. Förderalismus und Subsidarität werden es möglich machen, eine gewisse mitgliedstaatliche Souveränität zu erhalten. Dies schliesst jedoch einen gewissen Souveränitätstransfer im klassischen Sinne nicht aus: die Delegation des Entscheids in wichtigen, vor allem nach aussen gerichteten Fragen an die nächsthöhere Ebene.

Es ist kaum vorstellbar, dass die Schweiz von möglichen Verwerfungen auf diesem Kontinent einfach unberührt bleibt. Die Schweiz müsste einer solchen Entwicklung deshalb nicht nur nicht abgeneigt sein, sondern sich vielmehr aktiv in eine solche Ausgestaltung einbringen wollen, und zwar in ihrem ureigensten Interesse.

Zur Person

© FUG / Stefan Wermuth

Katja Gentinetta, politische Philosophin, ist selbständige Publizistin. Sie lehrt u.a. an der Universität Luzern, ist im Aufsichtsrat des IKRK und hält das Präsidium der Kulturinstitution Stapferhaus inne. Katja Gentinetta schreibt regelmässig für das Magazin «Pragmaticus» und sie ist Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher.

Zur Veranstaltung

© freepik.com (Fotomontage: Christa Heinzer)

Sämtliche Unterlagen und Aufzeichnungen zur Veranstaltungsreihe «Schweiz: Souveränität neu denken» finden Sie unter diesem Link: www.forum.unibe.ch/souveraenitaet