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Prof. Dr. Hans Jörg Znoj: «Der heutige Mensch ist für sein Schicksal selber verantwortlich» Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Sinnfindung ohne Kirche?

Im Rahmen der Abschlussveranstaltung der Reihe «Kirchen zwischen Macht und Ohnmacht» warf Prof. Dr. Hans Jörg Znoj einen psychologischen Blick auf das sinnvolle Leben. 

Von Marcus Moser

Als er das Thema seines Vortrags erhalten habe, sei er zunächst etwas erschrocken, meinte Prof. Dr. Hans Jörg Znoj zu Beginn seines Referats trocken. «In der Psychologie beschäftigen wir uns scheinbar dauernd mit Sinnfragen. Aber die Psychologie kann keinen Sinn stiften.» Die Psychologie erforsche das Verhalten und Erleben des Menschen. Sie frage danach, in welchen Situationen sich eine Person mit der Sinnfrage befasse oder wann eine Person ihr Verhalten und Erleben als sinnvoll oder sinnlos erlebe. 

«Der Mensch ist für sein Schicksal verantwortlich»

«Die Frage nach dem Sinn stellt sich dem Menschen erst in der Krise», unterstrich der klinische Psychologe. «Das ist eine Frage, die sich aus der Freiheit des Menschen ergibt.» Tiere stellten sich die Sinnfrage nicht, sie lebten gemäss ihrem Instinkt. «Der heutige Mensch ist demgegenüber für sein Schicksal verantwortlich» stellte Znoj fest und zitierte den Gründer der Logotherapie Victor Frankl: «Im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Instinkt, was er tun muss und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten sagt ihm keine Tradition mehr, was er tun soll und nun scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er eigentlich will» (Frankl 1981). Damit werde die Last der Sinnfindung in unserer Zeit individualisiert, hielt Znoj fest. Die wachsende Bedeutung einer reflektierten, bewussten Lebensgestaltung zeige sich nicht zuletzt im Boom von Psychotherapie, von Coaching und Lebenshilfe. 

Gesundheit als Sinn und Aufgabe?

Wenn sich die Frage nach dem Sinn erst in der Krise stelle, helfe es weiter, sich zunächst zu fragen, was denn in persönlichen Krisen geschehe. «Im psychischen Trauma zerbricht unsere Welt, so wie wir sie gekannt haben. Das Leben erscheint sinn-los und leer.» Für die Betroffenen seien Einsamkeit, Angst, Unsicherheit und Verhaltensänderungen mögliche langfristige Folgen. «Hier setzt die Psychologie an. Das Wiedererlangen der Gesundheit ist die Aufgabe. Wenn das Trauma Sinn-losigkeit hervorruft, wie kommen wir wieder zur Gesundheit, wie zu einem sinnvollen Leben?» Aus der psychologischen Praxis, aber auch aus unserem Alltag seien uns verschiedene Mittel zur Bewältigung von Krisen bekannt, unterstrich Hans Jörg Znoj. Wichtig seien die soziale Unterstützung der erkrankten Person, eine Orientierung an Werten, die Revision des eigenen Weltbildes, das Erlernen neuer Fähigkeiten, ein veränderter Umgang mit den eigenen Gefühlen aber auch beispielsweise ein persönlicher Zugang zu Spiritualität.

Was gesund erhält

«Hier nun taucht eine neue Frage auf: Was erhält denn gesund?» Hans Jörg Znoj verwies auf eine Erkenntnis der antiken Philosophie. «Epiktet stellte fest: Was die Menschen bewegt, sind nicht die Dinge selbst, sondern die Ansichten, die wir von ihnen haben.» So seien es eben nicht die Umstände, die einen krank machten, sondern die Art, wie wir damit umgingen. «Nicht die objektiven Situationen sind entscheidend, sondern wie wir sie einschätzen. Betrachten wir sie als Herausforderung? Oder betrachten wir sie als unüberwindbar? Sehen wir uns in einer Situation als Opfer oder als jemand, der etwas tun kann?»

An diesem Punkt setze beispielsweise die kognitive Therapie an, erläuterte Znoj. Sie betrachte Gefühle als Ergebnis von Bewertungsvorgängen. Und falsches, irrationales Denken könne zu dysfunktionalen Gefühlszuständen und damit zu psychischen Störungen führen.  Znoj erwähnte die für Depression häufig wahrnehmbare «kognitive Triade» einer negativen Sicht von a) sich selbst, b) der Welt sowie c) der möglichen Zukunft. Mit einer gelingenden Therapie könnten solche Ansichten indes verändert werden.

Coping und Resilienz 

Der Psychologe illustrierte die Zusammenhänge ebenfalls am Model der Salutogenese von Aaron Antonovsky, der die Frage nach der Entstehung der Gesundheit in die Wissenschaft eingebracht habe: «Antonovsky ging davon aus, dass Menschen, die fähig sind, in sich selbst Kohärenz zu erzeugen, auch gesund leben können.» Und dieser Kohärenzsinn bestehe für Antonovsky aus drei Teilen: der Fähigkeit, etwas zu tun und Schwierigkeiten meistern zu können; der Möglichkeit, die Welt als relativ geordnet und konsistent zu erleben. Sowie aus der Möglichkeit, das Leben trotz Schwierigkeiten als sinnvoll zu erleben und Schwierigkeiten als Herausforderung zu sehen. 

Die Fähigkeiten der Menschen mit kritischen Situationen umzugehen seien indes unterschiedlich ausgeprägt. Die wissenschaftliche Psychologie verwende den Begriff Coping, um Bewältigungsstrategien in kritischen Situationen zu bezeichnen. Die Forschung habe gezeigt, dass eine Mehrheit von Personen nach kritischen Ereignissen relativ schnell wieder zum ursprünglichen Funktionsniveau zurückfänden oder sich auch aus ungünstigen Bedingungen heraus «normal» entwickeln könnten. Dies werde mit Resilienz bezeichnet. 

Entwicklung als Aufgabe

Am Ende seiner Ausführungen stellte der Psychologe mit einer gewissen Erleichterung fest, dass er den Begriff «Kirche» nun gar nicht verwendet habe. Die Psychologie könne zwar nicht Sinn stiften, aber sich doch zu Rahmenbedingungen äussern, meinte Hans Jörg Znoj abschliessend. Das Erleben von Sinn sei ein dynamischer Prozess und subjektiv als Wohlbefinden erlebbar. Sinn ergebe sich als erfahrbare Qualität in der persönlichen Reflexion. Unser Sinnerleben sei abhängig von unseren persönlichen Freiheitsgraden im Erleben und Verhalten. Das wieder setze voraus, dass wir offen mit uns und anderen umgingen. «Sinn ist kein fertiges Produkt, sondern muss immer wieder geschaffen werden.»