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«Woran liegt es, dass der Wahrheitsanspruch der Bibel so gründlich missverstanden werden kann?», fragte Prof. Dr. Katharina Heyden. Bild: © Forum Universität und Gesellschaft / Stefan Wermuth

Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Der Wahrheitsanspruch der Bibel beziehe sich nicht auf «Etwas», sondern auf ein «Du», erläuterte die Theologieprofessorin Katharina Heyden. An der Unterscheidung der Begriffe «Rätsel» und «Geheimnis» zeigte sie, dass sich dieses biblische «Du» auf eine Wirklichkeit beziehe, die allen Menschen unverfügbar bleibe. 

Von Sarah Beyeler

Prof. Dr. Katharina Heyden vom Institut für Historische Theologie der Universität Bern begann ihr Referat mit der grossen Frage: «Was ist Wahrheit?» In der Bibel werde diese Frage nur ein einziges Mal gestellt und nicht beantwortet. Zwar gehe es in den biblischen Büchern immer wieder um Wahrheit. «Doch wenn davon die Rede ist, dann niemals in definitorischer Sprache.» In der Bibel fänden sich nur Aussagen zum relationalen Aspekt der Wahrhaftigkeit. Ihr Wahrheitsanspruch beziehe sich nicht auf ein «Etwas», sondern auf ein «Du», erläuterte die Theologieprofessorin.

Unverfügbarkeit der Wahrheit

Dieses biblische «Du» beziehe sich nicht ausschliesslich auf andere Menschen und deren Wahrheiten, sondern auf eine Wirklichkeit, die per definitionem unverfügbar sei und in der Bibel «Gott» genannt werde. Diese eine Wahrheit bleibe für alle Menschen gleichermassen unverfügbar, führte Heyden aus. 
Was bedeutet das für das Menschenbild? Der Mensch werde verstanden als ein von Erkenntnisdrang getriebenes, fragendes Wesen. «Ein Wesen, das sich auf die Wahrheit ausrichtet, ohne sie jemals zur Verfügung zu haben.» Wahrhaftigkeit bedeute in diesem Sinn, sich im eigenen Denken an der Unverfügbarkeit der Wahrheit zu orientieren.
Im Gegensatz dazu hätten Kirchen allzu lange und mit zu viel Macht ausgestattet beansprucht, die Wahrheit über «Etwas» verstehen und verwalten zu können. Die Referentin fragte: «Woran liegt es, dass der Wahrheitsanspruch der Bibel so gründlich missverstanden werden kann, sogar von Christinnen und Christen selbst?»

Rätsel und Geheimnis

Eine Antwort auf diese Frage entwickelte Heyden mit dem Begriffspaar Rätsel und Geheimnis. Religion widme sich dem Geheimnis und nicht dem Rätsel, denn Rätsel sollten gelöst, Geheimnisse aber bewahrt werden.
Doch der Bezug auf ein Geheimnis dürfe nicht ein geheimnistuerisches Denken und Reden legitimieren, welches sich abseits von vernünftigen Argumentationen vollziehe, betonte Heyden. «Nüchternheit und Mystik schliessen sich in der Geschichte des Christentums keineswegs aus.» Die wissenschaftliche Theologie habe ernst zu nehmen, dass Religion sich auf ein «Du», und damit auf ein Geheimnis beziehe. Es gehe darum, zu beschreiben und zu verstehen, wie Menschen sich selbst und das Geheimnisvolle in ihrem Leben beschrieben, und wie sie in Entsprechung zum Glauben an ein göttliches Gegenüber heute denken und leben könnten.
Doch die Theologie habe es nicht ausschliesslich mit Geheimnissen zu tun. Rätselhaftes und Geheimnisvolles seien zwei Dimensionen, die beide vielen Phänomenen innewohnten. Was wir daran begreifen könnten, könne man Rätsel nennen. Was uns ergreife, seelisch und geistig antreibe oder auch blockiere, das ordne sie dem Geheimnisvollen zu, so Heyden. «Beides kann erforscht und beobachtet werden, aber mit unterschiedlichen Fragerichtungen, Methoden, Ergebnissen und Sprachen.»

Der Mensch zwischen Ohnmacht und Freiheit

Im christlichen Nachdenken über den Menschen lauteten zentrale Vorstellungen, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes und dass Gott, der Schöpfer, Mensch geworden sei. Das «Du», auf welches sich die christliche Religion beziehe, werde zum Mensch gewordenen Gott und überwinde den Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf. Daran knüpften christliche Theologen den Gedanken, dass jeder Mensch potentiell der Teilhabe am Göttlichen fähig sei. «Aus dieser Spannung zwischen der Ohnmacht des Geschöpfs und seiner Ermächtigung zur Teilhabe am Schöpfer ergibt sich aus christlicher Sicht der Entfaltungsraum des Menschen in dieser Welt.» Letztendlich bestehe die Ohnmacht des Menschen nur gegenüber Gott, sie bringe damit eine Freiheit gegenüber allen Wahrheits- und Machtansprüchen in der Welt mit sich.

Von der Einsicht, dass der Mensch keinen Zugriff auf die Wahrheit hat

Christliche Theologie und Kirche seien frei zu einem unbefangenen Umgang mit allen Rätseln dieser Welt. Sie seien aber auch zum Einspruch verpflichtet gegen die Verwechslung von Rätsel und Geheimnis, betonte Katharina Heyden. Denn wenn Rätsel zu Geheimnissen erklärt und dadurch religiös überhöht würden, «dann schwingen sich Leute mit religiöser Legitimation zu Hütern aller menschlicher Erkenntnis auf». Wenn umgekehrt alles Geheimnisvolle im Erleben des Menschen als prinzipiell lösbares Rätsel aufgefasst werde, trete der Lückenbüsser-Effekt ein: «Gott wird dann jeweils an die Stelle gesetzt, wo das menschliche Erkennen an eine Grenze stösst.»
Die Frage nach der Wahrheit werde in der Bibel nicht definitorisch, sondern als eine Frage der Beziehung behandelt, schlug die Referentin den Bogen zur Frage zu Beginn ihres Vortrags. «Deswegen eignen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse weder zur Bestreitung, noch zur Bestätigung biblischer Wahrheitsansprüche.» Vielmehr erschliesse sich der Wahrheitsgehalt der Bibel und des Christentums erst, wenn man sie als Einführung begreife in einen Umgang mit der Einsicht, dass die Menschen keinen Zugriff auf die Wahrheit hätten.