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«Ein zu einer bestimmten Zeit ausgeformtes Welt- und Menschenbild ist Ausdruck seiner geschichtlichen Begrenzung», erläuterte Prof. Dr. Andreas Wagner. Bild: © Forum Universität und Gesellschaft / Stefan Wermuth

Pluralität von Weltbildern im biblischen Kanon

Im Alten Testament finden sich zahlreiche, teilweise unterschiedliche Schöpfungsvorstellungen. Zwar weisen sie keinen naturwissenschaftlichen Charakter auf, ihre Pluralität zeigt aber, dass sich Weltbilder ändern können.

Von Doris Moser

«Die Israeliten hatten alles verloren, alles was das alte Jerusalem ausgemacht hatte.» Mit der Erinnerung an die Eroberung Jerusalems im Jahr 587 v. Chr. begann Prof. Dr. Andreas Wagner vom Institut für Altes Testament der Universität Bern sein Referat. Damals wurde die Stadt Jerusalem und deren Tempel durch die Babylonier erobert, geplündert und zerstört und ein Grossteil der Bevölkerung ins babylonische Reich deportiert. Die erste Exilgeneration hätte sich darauf intensiv mit der Frage nach den Gründen für dieses traumatische Ereignis beschäftigt, so Wagner. Sie hätte sich von ihrem Gott wegen ihrer gemachten Fehler verlassen gefühlt. Dieser Glaube habe die ersten Generationen im Exil zu einem schonungslosen Aufdecken des Fehlverhaltens sowohl des Königs und der Priesterschaft als auch des gesamten Volkes angeregt. Der Wille des Gottes sei nicht eingehalten worden, weil sich beispielsweise reiche Leute auf Kosten der Armen bereichert hätten. Die Gesamtheit dieser Fehler sei als Grund für den Untergang Jerusalems angenommen worden, führte Wagner aus. Das Nachdenken über menschliches Fehlverhalten schlage sich in den geschichtlich geprägten Büchern des Alten Testamentes nieder (Josuabuch, Richterbuch, Samuelbücher, Königebücher), so der Referent.

Auswirkungen der Glaubenskrise auf das Weltbild

Die Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit menschlichem (Fehl-)Verhalten führten zu einem neuen Verständnis der Mensch-Gott-Beziehung: Gott habe das jüdische Volk nicht wegen dessen fehlerhaftem Verhalten verlassen, sondern er habe sein Volk mithilfe der Babylonier für die Nichtachtung seines Willens bestrafen wollen. Er würde sich zu gegebener Zeit eines anderen Volkes bedienen, um die Strafe zu beenden. Daraus entwickelte sich die Vorstellung, dass der Gott weiterhin zu seinem Volk halte und «von Anfang an alle Fäden in der Hand habe», ergänzte der Referent.

Die Existenz eines Volkes beginne mit der Schöpfungsgeschichte, welche die grundsätzliche Beziehung zu Gott aufzeige. «Wir können wahrhaft von einem Weltbild sprechen, das hier entworfen wird, das aber von der Entstehung her nicht aus dem Gedanken einer Welterklärung heraus entstanden ist, sondern aus der Anschauung, dass sich in der Art, wie die Schöpfung der Welt dargestellt und ausgestaltet wird, die Ordnung der Welt als Lebensraum für die Mensch-Gott-Beziehung ergibt (...)», führte Wagner aus. Die Schöpfungsgeschichte sei also kein naturwissenschaftlicher Erklärungsversuch, wie sich die Entstehung der Welt und der Menschen abgespielt haben könnte. «Eine Deutung der Schöpfungserzählung als Welterklärung in der Art neuzeitlicher, naturwissenschaftlicher Weltentstehungs- oder Weltentwicklungstheorien ist nach meiner tiefsten Überzeugung auch theologisch vollkommen falsch», unterstrich der Alttestamentler.

Das in der Schöpfungsgeschichte dargelegte Sieben-Tage-Schema sei singulär in der altorientalischen Welt entwickelt worden. Die Sieben-Tage-Gliederung, wonach nach sechs Tagen Arbeit ein Tag Gott zu widmen sei, habe zur Sichtbarmachung der eigenen Religionszugehörigkeit und zur Abgrenzung gegenüber anderen Religionsgemeinschaften gedient. «Der Beweggrund, die Sieben-Tage-Gliederung als Bestandteil des Schöpfungsgeschehen zu sehen, war nicht die Bemühung, neueste damalige wissenschaftliche Erkenntnisse zur Weltentstehung einzubeziehen, (...) sondern aufzuzeigen, dass die Ordnung der zukünftigen Welt schon von Anfang an gottgewollt gewesen war», erklärte der Referent.

Menschenbild: die totale Gleichheit vor Gott

Im babylonischen Exil habe sich nicht nur das Weltbild, sondern auch das Menschenbild stark verändert: Die Priesterschriften zeigten, dass radikale Ansichten aus der bereits erwähnten Aufdeckung von Fehlverhalten entwickelt worden seien: Alle Menschen, ja das ganze Volk habe sich verfehlt, ob Mann oder Frau, ob arm oder reich. Denn alle müssten sich gleichermassen an die Weisungen Gottes halten, jedes menschliche Wesen habe denselben Stand in der Beziehung zu Gott. Alle Menschen seien mit ihrem Verhalten für das Gemeinwohl mitverantwortlich. Dies bedeute konkret eine Gleichstellung aller Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in ihrer Beziehung zu Gott: «Es gibt die totale Gleichheit», verdeutlichte Wagner. Diese Vorstellung komme auch in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck: Bei der Erschaffung der menschlichen Wesen sei von einem Kollektivbegriff die Rede, es werde nämlich von der Schöpfung der Menschheit gesprochen.

Weltbilder ändern sich

Es gebe zahlreiche, teilweise unterschiedliche Schöpfungsvorstellungen im Alten Testament, von welchen keine einen naturwissenschaftlichen Charakter aufweise. Und trotzdem seien alle im biblischen Kanon eingeschlossen und als gleichermassen bedeutsam überliefert worden. «In der Verschiedenheit der kanonischen Welt- und Menschenbilder steckt auch die Einsicht, dass ein zu einer bestimmten Zeit ausgeformtes Welt- und Menschenbild Ausdruck seiner geschichtlichen Begrenzung ist», führte Wagner aus. Die Pluralität der Weltbilder im Alten Testament zeige, dass sich Weltbilder ändern könnten. Diese Einsicht sei teilweise in der langen Überlieferungsgeschichte der Bibel verloren gegangen, obwohl der biblische Kanon sie eigentlich schon vor sehr langer Zeit offenbart habe, schloss Wagner.