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Der Referent Jens Schlieter steht während seinem Vortrag neben dem Rednerpult stützt sich mit der rechten Hand auf dem Pult ab.
«Galt der klassische Veganismus als radikal, empfinden viele den neuen Veganismus als freundlich», erklärt Jens Schlieter. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Eat happy mit Karma

Die vegetarische Ernährungsweise hat ihre Wurzeln in den antiken Denkweisen Griechenlands und Indiens. Heute versprechen eklektische Marketingstrategien ein besseres Karma beim Griff zu den entsprechenden Produkten im Lebensmittelregal. Geht es da noch um Ethik – oder einfach um einen hippen Lebensstil?

Von Marcus Moser

Am Anfang stand eine Idee – die Idee der Wiedergeburt. Wenn Menschen als Tiere, Tiere als Menschen wiedergeboren werden können, wird die Sache mit dem Fleischverzehr schwierig. Oder anders gesagt: Zu einer ausserordentlich bedeutsamen ethischen Frage. Nur: Wie ausgeprägt sind ethische Motive in heutigen Ernährungsweisen und Lebensstilen? Dieser Frage widmete sich Religionswissenschaftler Prof. Dr. Jens Schlieter von der Universität Bern. Ein erster spannender Befund: Vorsokratisch-griechische und indische Philosophen kamen ungefähr zeitgleich dazu, für eine vegetarische Ernährung zu werben.

Aber nur in diesen beiden Weltregionen. Was umgekehrt bedeutet: Alle heutigen vegetarischen Bewegungen stehen entweder in der europäischen oder der indischen, vor allem buddhistischen, Traditionslinie. Beiden Traditionslinien gemeinsam ist die Idee einer Seelenwanderung (Metempsychosis) und eine am Leiden orientierte Ethik. Bekannte Exponenten sind die Orphiker, Pythagoras (ca. 560-480 v.u.Z.), Empedokles (ca. 483-420 v.u.Z.) Mahāvīra, Begründer des Jainismus (5 Jh. v.u.Z.), Siddhārtha Gautama, der Buddha (5 Jh. v.u.Z.) , Theophrast (ca. 372-287 v.u.Z.) oder Plutarch (ca. 45-120 u.Z.). Weltweite Verbreitung fanden diese Gedanken wohl durch die indoeuropäische Völkerwanderung.

Gewalt-, nicht Fleischverzicht

Im Zentrum stand indes der Verzicht von Gewalt gegen Tiere. Buddhistische Quellen kennen das Gebot des Nicht-Verletzens: «Es stellt eines der fünf Grundgebote der Sittlichkeit dar und gebietet, vom Töten lebender Wesen Abstand zu nehmen.» Der Verzehr von Fleisch war in buddhistischen Klöstern erlaubt, wenn sichergestellt war, dass das Tier nicht extra getötet worden ist.

War die christliche Antike und Spätantike zunächst mehrheitlich von positiven Einschätzungen des Vegetarismus geprägt, verlagerte sich dies laut Schlieter zunehmend in Minderheitenpositionen (Häresien): Die Enthaltung vom «fleischlichen» Begehren galt diesen als asketisches Ideal, frugale Bescheidenheit als Tugend. Demgegenüber galt nun einer Mehrheit im Mittelalter Fleisch als Festtagsessen, das sakral und in der Tischgemeinschaft aufgewertet wurde. Die gemeinsame und geteilte Mahlzeit wurde zum religiösen Ritual. Fleisch-Essen war normativ aufgeladen, exemplarisch im Lammfleisch – der Osterspeise in orthodoxen Traditionen – welches an Jesus als «Lamm Gottes» erinnert.

Ab 1850 kam es in Europa zu einem Aufschwung des Vegetarismus, motiviert insbesondere durch gesundheitliche Erwägungen. Schlieter erinnert an die Lebensreform-Bewegungen jener Zeit (z.B. Monte Verità bei Ascona), die mit durchaus prophetischem Sendungsbewusstsein lebensphilosophische, monistische und vitalistische Auffassungen vertraten. Die industrielle Lebensmittelproduktion führte dagegen zu einem Anstieg der Fleischernährung, da sich nun auch finanziell schlechter gestellte Schichten mehr Fleisch leisten konnten. Nach dem Rückgang des Vegetarismus bis zirka 1970 lässt sich ab 1990 eine deutliche Zunahme beobachten; seit zirka 2010 steigt auch der Veganismus wahrnehmbar an.

Fleischarme Zukunft?

Heute liegt fleischlos Essen im Trend. Die von Schlieter präsentierten Zahlen zeigen bei Vegetarier:innen etwa eine Verdoppelung über das letzte Jahrzehnt. Demnach verzichten in den USA, in Mitteleuropa und der Schweiz inzwischen zirka fünf Prozent der Bevölkerung auf Fleisch. In Grossbritannien, Schweden und Österreich sind es zirka neun Prozent, in Indien zirka 30 Prozent. «Die Zahlen sind kaum repräsentativ, zeigen aber einen Trend an – und der geht nach oben», so Schlieter. «Fleischlose Ernährung wird zu einem Kohortenphänomen», ist er sich sicher. «Es sind vor allem jüngere Menschen, die sich fleischlos zu ernähren beginnen.»

Ältere Definitionen sprachen noch davon, dass Veganismus eine Philosophie und eine Lebensweise ist, bei neueren fällt die Philosophie weg – es bleibt die Lebensweise.

Nur: Insgesamt hat der Fleischkonsum weltweit absolut um 3 Prozent zugenommen. Ins Auge sticht die deutliche Erhöhung in Indien und China um 7.4 Prozent von 1961 bis 2009. «Das hat mit dem steigenden Wohlstand zu tun, hinzu kommen dann aber auch regionale Phänomene.

Fragt man nach den Motiven, die hinter der Entscheidung für eine vegetarische, vegane, oder flexitarische Ernährungweise stehen, unterscheidet Jens Schlieter fünf Begründungsstränge: Eine auf dem Tierschutz gründende Ethik (a), Gesundheit (b), Umweltschutz (Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit (c)), religiöse Auffassungen (wie Reinheit, Wiedergeburtslehre, Askese (d)) oder andere Motive, seien sie nun emotional (zum Beispiel Ekel) oder ungewollt (wenn Armut den Kauf von Fleisch nicht zulässt). Generell lässt sich nach Schlieter feststellen, dass die Begründungen für fleischlose Ernährung im Wandel sind. «Ältere Definitionen sprachen noch davon, dass Veganismus eine Philosophie und eine Lebensweise ist, bei neueren fällt die Philosophie weg – es bleibt die Lebensweise.»

Von der Ethik zum Lebensstil

Empirische Studien der letzten zehn Jahre weisen denn auch auf eine Verschiebung der Motivlagen hin: 60 Prozent wollen die Massentierhaltung und Tötung von Tieren vermeiden, 20-40 Prozent geben die eigene Gesundheit als ausschlaggebenden Faktor an. Umweltpolitische Motive nehmen zu. Dabei werden im herkömmlichen Sinne religiöse Motive zunehmend marginal – also Reinkarnationsüberzeugungen, fleischlose Selbstkultivierung als asketischer Heilsweg oder die Interpretation religiöser Quellentexte als pro-vegetarisch. 

Vegetarismus als Religion?

Wird Vegetarismus als Religion bezeichnet, kommt diese Zuschreibung meist von aussen. Erklärt werden soll damit nach Religionswissenschaftler Schlieter die Unerbittlichkeit – ja Verachtung – in der Beurteilung Andersessender. Unterstellt wird, dass die verschiedenen Essenskonzepte in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stünden. Schlieter zeigt am Beispiel der Produktlinie «Karma» (Claim: «Dein Karma liebt dich»), dass die altindischen Traditionen veganer Ernährung bis heute wirkmächtig geblieben sind – wenn auch vor allem im Marketing. Aber dennoch: Die Unterschiede zwischen klassischem und neuem Veganismus sind markant. War jenem die Tierethik zentral, tritt sie bei diesem zurück. Bezog sich jener auf andere und die Opfer, bezieht sich dieser auf die Handelnden. Galt dem klassischen Veganismus Verzicht auf Genuss und die Bereitschaft zum Opfer, gilt dem neuen Veganismus ein genussbetonter, nachhaltiger Lebensstil, der den Markt bejaht und neue Produkte akzeptiert. Als Fazit meint Jens Schlieter: «Galt der klassische Veganismus als radikal, empfinden viele den neuen Veganismus als freundlich. Sein Image ist bei Nicht-Veganern positiv.»

ZUM AUTOR

Marcus Moser ist Geschäftsleiter des Forums für Universität und Gesellschaft

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Die Videoaufzeichnung von Jens Schlieters Vortrag können Sie sich hier ansehen. 

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