Forum für Universität und Gesellschaft

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China im Fokus mit Linda Maduz, Beatrice Born, Uli Sigg und Beat Hotz-Hart (v.l.n.r.). Bild: © FUG/Stefan Wermuth

Wirtschaftliche Dynamik mit geopolitischen Folgen

Chinas Aufstieg ist historisch ebenso einmalig wie es auch die dadurch ausgelösten globalen Veränderungen sind. Sind sie auch furchterregend? Diese Frage prägte den zweiten Tag der Veranstaltungsreihe «Der Aufstieg Chinas und die Neuordnung der Welt» des Forums für Universität und Gesellschaft.

Von Markus Mugglin

«In 40 Jahren hat sich in China fast alles verändert; es ist eine dramatische Veränderung, wie sie die Welt noch nie erlebt hat und wie es vielleicht nur in China machbar ist.» Das meinte Uli Sigg im Gespräch des zweiten Tages der China-Veranstaltungsreihe des Forums für Universität und Gesellschaft. Sigg ist ein besonderer Zeitzeuge der dramatischen Veränderungen, hat er sie doch in drei verschiedenen Funktionen miterlebt: Als Kunstsammler, als Wirtschaftsvertreter und als Botschafter der Schweiz. 

Zum Kunstsammler wurde Sigg, weil in den 1990er Jahren in China niemand zeitgenössische Kunst gesammelt habe. Diese Lücke wollte er schliessen. Die Chinesen sollten ihre Kunst ansehen können. Diese sei aber auch für uns wertvoll. Eine Ausstellung chinesischer Kunst ersetze 100 Bücher über China, meinte Sigg. Sie mache es möglich, das Riesenreich und seinen rasanten Wandel zu verstehen. 

Wirtschaftlich spielte Sigg eine Pionierrolle als Vertreter der Schindler Aufzüge AG in China. Es war das erste ausländische Unternehmen, mit dem China 1980 ein Joint Venture eingegangen war. Damals gab es keine Regeln, wie das juristisch zu machen war. Was die Schindler AG und die chinesischen Partner vereinbarten, wurde Gesetz für die zahlreichen Gemeinschaftsunternehmen, die später entstanden sind.    

Als Zeitzeuge hat Uli Sigg auch wahrgenommen, wie sich das Selbstverständnis der Chinesen über vier Jahrzehnte verändert hat. Früher hätten sich die Chinesinnen und Chinesen minderwertig gefühlt und versucht, dies zu überspielen. Ums Jahr 2000 herum habe im Verhältnis zum Westen dann ein Gleichgewicht geherrscht. Jetzt hingegen stelle er eine überhebliche Haltung fest. Die Chinesen seien überzeugt, sie wüssten es selber am besten. 

Von der Werkbank zur technologischen Spitze

Über Chinas Ehrgeiz und seinen Aufstieg von der Werkbank zur technologischen Spitze referierte der Volkswirtschaftler Beat Hotz-Hart, emeritierter Professor der Universität Zürich. Der Aufstieg seit 1980 basiere auf fünf Säulen. Erstens seien die Marktkräfte zugelassen worden. Der Privatsektor und dabei vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen hätten eine neue Dynamik ausgelöst. Zweitens spielten Staatsunternehmen eine zentrale Rolle. Hinzu komme drittens die Öffnung gegenüber der Welt, die zu einer starken Steigerung der ausländischen Direktinvestitionen in China geführt habe. Es sei aber keine bedingungslose Öffnung gewesen: Ausländische Unternehmen mussten ihre Technologien offenlegen. Das habe es China ermöglicht, Technologien nicht nur zu kopieren, sondern diese auch innovativ weiterzuentwickeln. Das Wachstum wurde nach Hotz-Hart viertens durch Investitionen in die Infrastruktur angetrieben. Die Investitionsquote sei auf 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts hochgeschnellt und damit auf einen viel höheren Wert als in den Ländern des Westens. Die fünfte Säule des Aufstiegs bilde schliesslich der massive Ausbau von Bildung und Forschung. Heute entfielen 57 Prozent der weltweiten naturwissenschaftlichen Hochschulabschlüsse auf China. 

China stellten sich aber auch grosse Herausforderungen. Beat Hotz-Hart nannte die regionalen Ungleichheiten zwischen der Küstenregion und den landwirtschaftlich geprägten ländlichen Gebieten, wo noch immer die Mehrheit der Menschen lebt. Hinzu kämen die Umwelt- und Klimaprobleme, die geringe Produktivität der Staatsbetriebe, stark verschuldete Unternehmen, ein risikobeladenes Schattenbankensystem. Die Verschuldung Chinas sei massiv gestiegen, im Vergleich zu vielen anderen Ländern aber weniger riskant, da es sich um Schulden in Landeswährung handle. Schliesslich entwickle sich China zu einer alternden Gesellschaft. Der Anteil der Erwerbsbevölkerung nehme ab, die Wirtschaft werde künftig weniger schnell wachsen, die Wettbewerbsfähigkeit würde leiden. 

Das chinesische Wachstumsmodell werde sich zu weniger Exportabhängigkeit mit mehr Schutz für die Umwelt wandeln. Mit dem Aufstieg zur Weltführerschaft sei der Wille verbunden, die Weltordnung mitzugestalten. China werde vom «rule taker» zum «rule maker» in der Welt, schloss Beat Hotz-Hart seine Ausführungen.

Über den wirtschaftlichen Aufstieg zur geopolitischen Einflussnahme

Chinas neue Rolle in der Welt war für die am ETH Center for Security Studies forschende Linda Maduz Ausgangspunkt ihrer Ausführungen. China wolle Führungsmacht in der Welt sein – und sei es bereits. Es rangiere seit Anfang des Jahrzehnts auf zweiter Position, sei für viele Länder wichtigster Handelspartner, der Welt grösster staatlicher Gläubiger, vergebe mehr finanzielle Mittel als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds zusammen. Zur wirtschaftlichen Stärke gesellten sich politische Ambitionen. Ausdrücken würden die sich in neuen Institutionen wie der Asiatischen Entwicklungs- und Infrastrukturbank oder im Projekt der neuen Seidenstrasse. 

Regional wirke sich der Aufstieg Chinas verschieden aus. In Asien stelle er die alte Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur in Frage, im Verhältnis zu den USA gehe es um Systemwettbewerb und technologische Vormacht, für Europa schliesslich bilde China eine wirtschaftliche, nicht aber eine militärische Konkurrenz. 

Auf das Verhältnis China – Europa ging die ETH-Sicherheitsforscherin Maduz am Beispiel der neuen Seidenstrasse ein. Über das Projekt verstärke China seine Präsenz in Südosteuropa und Osteuropa und mache die Länder in der Region finanziell abhängig. Das erschwere es Europa, gegenüber China einheitlich aufzutreten. Hinzu komme die Frage, wie sich die Rivalität China - USA auf Europa auswirke. Maduz erwähnte dabei Europas Haltung in der WTO und damit verbunden die Frage des Multilateralismus sowie die Investitionskontrollen wie beispielsweise gegenüber Huawei. 

Schweiz – China: eine privilegierte Beziehung?

Abschliessend ging Linda Maduz auf die scheinbar für die Schweiz privilegierten Beziehungen zu China ein. Die wirtschaftlichen Interessen seien gut vertreten, Investitionskontrollen würden abgelehnt, die mit dem Technologiekonzern Huawei verbundenen Probleme würden hier nicht diskutiert. Neu sei der Ruf nach einer kohärenten China-Strategie laut geworden. Auch werde die abnehmende Bedeutung der Menschenrechtsfrage im Verhältnis zu China beklagt. Aufgrund dieser unterschiedlichen Tendenzen plädierte die ETH-Sicherheitsforscherin dafür, dass die Schweiz ihre Interessen im Verhältnis zu China definieren und darauf aufbauend ein politisches Instrumentarium entwickeln sollte.  

Hat die Schweiz eine wirklich privilegierte Position im Verhältnis zu China, fragte die Moderatorin Beatrice Born in der nachfolgenden Diskussion Uli Sigg. Die Schweiz könne im Verhältnis zu China tatsächlich mehrere «Firsts» beanspruchen, meinte dieser. Sie gehörte zu den ersten Ländern, die China vor mehr als 70 Jahren anerkannt hätte. Die Schweiz war das Land mit dem ersten Joint Venture in China, schloss als erstes Land ein Freihandelsabkommen und förderte über einen Partner-Fonds Investitionen in China. Diese Vorrangposition erklärt sich für Beat Hotz-Hart dadurch, dass China die Schweiz als besonders geeignet ansehe, den Zugang zu Europa zu proben.

Ob es möglich sei, ebenso konsequent bei Menschenrechten vorzugehen? Auf diese Frage aus dem Publikum erwiderte Uli Sigg, dass es in den 1990er Jahre noch einfacher gewesen sei. Aber auch damals sei es wichtig gewesen, den Menschenrechtsdialog fokussiert statt breit anzugehen. Deshalb habe man zum Beispiel beim Strafvollzug einiges erreicht. 

Gebärde sich China im Verhältnis zur Welt als Drache, wie es von der ETH-Forscherin Maduz in ihrer Präsentation dargestellt wurde? Auf diese Frage der Moderation gab Uli Sigg zu bedenken, dass für China ein Drache positiv besetzt sei, wir im Westen hingegen den Drachentöter positiv bewerten. Uli Sigg stimmte aber zu: Die Einflussmöglichkeiten Chinas würden laufend steigen. Es wolle den Teil der Welt beherrschen, wo es geografisch liege. Ausserhalb Asiens wolle China die wirtschaftliche Macht ausbauen.

Eine grosse Herausforderung stelle China für die Welt durch seine Innovationskraft dar. In der Elektromobilität und bei den erneuerbaren Energien sei es schon jetzt führend, konstatierte Beat Hotz-Hart. Es setze über das «Social Credit System» und das «Corporate Social System» neue Standards, die in «Smart Cities» bereits erprobt würden. Sie ermöglichten über Sensoren und Kameras umfassende Kontrollen. Dadurch liessen sich die Infrastrukturen und die Mobilität optimieren. Man könne beispielsweise feststellen, wie viel Abfälle produziert oder Energie verbraucht würden. Die Digitalisierung erlaube auch eine systematische Überwachung der Bevölkerung. China funktioniere nach der Grundhaltung, was gemacht werden könne, solle auch gemacht werden. Für den Westen, für Europa stelle sich die Frage, wie wir gegenüber dieser Entwicklung bestehen können, meinte Uli Sigg. 

Aus westlicher Sicht wirken diese Entwicklungen furchterregend. Linda Maduz meinte abschliessend trotzdem zuversichtlich, dass auch die Menschen in Asien respektiert werden wollten und den Wunsch nach Mitgestaltung äussern würden.  

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Der Ökonom Markus Mugglin arbeitet als freischaffender Journalist.