Forum für Universität und Gesellschaft

Aktuell

Prof. Dr. Markus Müller betonte: «Religion ist nicht Privatsache, sondern öffentliche, politische Sache!» Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Die Wahrung des religiösen Friedens: (Nur) eine Staatsaufgabe?

Ist Religion wirklich Privatsache und ist der Staat tatsächlich religiös neutral? Prof. Dr. Markus Müller hinterfragte die beiden zentralen Säulen der Glaubens- und Gewissensfreiheit und zeigte, dass sie zu einem passiven Umgang des Staats mit dem Religiösen führen.

Von Sarah Beyeler

 «Der Rechtsstaat ist für den Menschen da und nicht umgekehrt.» Dieser vielzitierte Satz bedeute, dass sich der Staat um die Bedürfnisse seiner Menschen kümmern müsse, «und zwar nicht nur um die materiellen, sondern auch um die immateriellen. Und diese sind eben auch religiös-spiritueller Natur». Prof. Dr. Markus Müller vom Institut für öffentliches Recht der Universität Bern erörterte im Folgenden, warum sich der Staat trotz diesem Leitsatz zumindest in religiös-spirituellen Belangen nicht durch grosses Engagement hervortue: «Religion ist Privatsache und der Staat ist religiös neutral. Das sind zwei unerschütterliche rechtsstaatliche Glaubenssätze», betonte er. Und diese seien es, die den Staat zu einer gewissen Passivität im Umgang mit dem Religiösen verleiteten. «Diese Haltung ist kritisch zu hinterfragen. Nicht aus Prinzip, sondern weil es dem Staat die Erfüllung seiner Aufgaben in einer religiös zunehmend vitaleren und durchmischten Einwanderungsgesellschaft erschwert», mahnt Müller. Der Staat sei dreifach gefordert. Er müsse zunächst den Mut haben zu sagen, was für ihn Religion und damit Schutzgut der Glaubens- und Gewissensfreiheit sei. Weiter müsse er dort intervenieren, wo die öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften die Grundregeln des Rechtsstaats missachteten. Und nicht zuletzt habe sich der Staat zur eigenen religiösen Prägung zu bekennen, forderte der Staatsrechtler. 

Sagen, was Religion ist

«Wenn der Staat in seiner Verfassung verspricht, die Religionen und das Religiöse zu schützen, dann muss er auch definieren, was er darunter versteht». Die Vorgaben des Verfassungsgebers seien hier ziemlich klar. Der Begriff der Religion müsse eng verstanden werden und erfasse hauptsächlich die Kultushandlungen. Ob auch Essens-, Bekleidungs- und andere religiös konnotierte Verhaltensvorschriften in den Schutzbereich fielen, sei zumindest fraglich. 
«Wenn der Staat die Religion definiert, heisst das nicht, dass er vorschreibt, welche Religion für jeden Einzelnen richtig ist. Er sagt nur, was er zu schützen bereit ist», präzisierte der Referent. Dabei müsse man stets bedenken, dass ein Sachverhalt, der von der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht erfasst werden, deswegen nicht schutzlos bleibe. Es gebe eine Fülle von Grundrechten, die die vermeintliche Lücke füllten.

Die Regeln des Rechtsstaats gegenüber den Landeskirchen durchsetzen

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit schützt nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Religionsausübung. «Am grössten ist die Freiheit für jene Religionsgemeinschaften, die in einer losen Beziehung zum Staat stehen und keine oder nur eine symbolische Anerkennung haben». Anders verhalte es sich jedoch für die öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften. «Diese stellen staatliche Körperschaften dar und als das sind sie, wie jede andere staatliche Behörde, zu Beachtung der Grundrechte verpflichtet.» «So gesehen ist es beispielsweise problematisch, wenn in der römisch-katholischen Kirche Frauen, Homosexuelle und Geschiedene diskriminiert werden und staatlicherseits wird nicht interveniert.» Der Staat täte daher gut daran, zuerst das Verhältnis zu seinen etablierten Religionsgemeinschaften zu bereinigen, bevor er sich mit der Frage der Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften auseinandersetze, forderte der Referent.

Etikettenwechsel: vom neutralen zum toleranten Staat

«An der Neutralitätsfähigkeit des Staats müssen wir zweifeln: Ein neutraler Staat darf nämlich streng genommen keinen religiösen Standpunkt haben. Unser Staat hat aber einen solchen», stellte Markus Müller klar. Dabei denke er weniger an die untrüglichen Zeichen der Christlichkeit im öffentlichen Raum, sondern vor allem an das staatliche Personal. Dieses sei nämlich heute noch fast ausnahmslos christlich-jüdisch geprägt. Eine Prägung die aus dem Unbewussten wirke und sich nicht so leicht aus der Welt schaffen lasse. Der Staat täte daher gut daran, sich diesbezüglich nichts vorzumachen. «Kurz, die religiöse Neutralität ist ein Mythos. Emsig Kreuze abzuhängen, Schleier zu verbieten, Weihnachtslieder nicht mehr zu singen, hilft da gar nichts.» Vielmehr laute die Frage, wie der Staat mit seiner religiösen Prägung verfahre.
Sich zu ihr bekennen sei ein erster Schritt. Sodann bedürfe es eines Etikettenwechsels vom neutralen zum toleranten Staat. Dabei gehe es nicht um eine Toleranz der gnädigen Mehrheit. Toleranz bedeutet vielmehr Respekt und Achtung vor dem Anderen, frei von jeglichen Wahrheitsansprüchen. «Denn wenn der Teufel irgendwo sitzt, dann in den absoluten Wahrheitsansprüchen.» Die Quelle einer so verstandenen Toleranz liege nicht etwa in der gern überschätzten Vernunft, sondern in der mindestens 3000 Jahre alten goldenen Regel der Menschlichkeit, die allen Weltreligionen gemeinsam sei. Auf sie kann und soll auch der Staat in seinem Handeln zurückgreifen und versuchen, allen im Gemeinwesen lebenden Personen eine gemeinsame Wertebasis zu schaffen. «Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Staat sich aber dringend vom Paradigma Religion ist Privatsache verabschieden; denn Religion ist nicht Privatsache, sondern elementar öffentliche Sache und damit Teil des rechtsstaatlichen Engagements!»