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«Wenn der Eindruck entsteht, dass Gott nicht mehr notwendig ist, braucht es keine Kirchen mehr»: Dr. Daniel Kosch zu den Herausforderungen der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Zukunftsvisionen sind geprägt von der Wahrnehmung der Gegenwart

Die Zukunftsvision der römisch-katholischen Kirche ist stark geprägt durch den Vertrauensverlust, vor allem ausgelöst durch den Missbrauchsskandal und der notwendigen oder gar überfälligen Debatte über Frauenordination und Zölibat. Der Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz Dr. Daniel Kosch sprach über die Herausforderungen der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz und über die Hoffnung, dass aus kleinen Senfsamen grosse Bäume entstehen können.

Von Doris Moser

Dr. Daniel Kosch, Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz knüpfte an die Vorredner und die Vorrednerin an: «Jede Zukunftsvision entsteht in einer bestimmten Gegenwartssituation und ist davon mitgeprägt, wie der Visionär, die Visionärin die Erfahrung und Entwicklung versteht, die zu dieser Gegenwart geführt haben.» Diese gegenwartsbezogene Funktion von Visionen zeige auch ein Blick in die Bibel, beispielsweise wenn Johannes der Täufer predige: «...es ist schon die Axt an die Wurzeln der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen» (Mt. 3,10/Lk 3,9). Die Botschaft dieses Satzes bedeute: Nur, wenn die Angesprochenen ihr Verhalten änderten, wenn sie ihr Herz Gott öffneten, würde ihr Baum Früchte tragen und nicht gefällt werden, erläuterte der Theologe. Aus gleicher Zeit sei auch eine andere Vision überliefert: «... und es wuchs und wurde ein grosser Baum und die Vögel des Himmels wohnten in seinen Zweigen» (Mt 13,32/MK 4,30-32). Hier habe Jesus über das Reich Gottes gesprochen, das einem Senfkorn gleiche und obwohl es der kleinste Samen gewesen sei, sei daraus ein grosser Baum gewachsen. 

Wandel in der Wahrnehmung der Rolle der Kirchen in der Gesellschaft

Die Rollen der Kirchen in der Gesellschaft wandelten sich und würden unterschiedlich beurteilt: Die einen schätzten die Vermittlung von Werten als Orientierungshilfe und das gesamtgesellschaftliche Engagement, die anderen erinnerten an das Gewaltpotential und an Konflikte, die ihre Ursprünge in religiösen Absolutheitsansprüchen hätten. Auch aus den eigenen Reihen würden kritische Worte laut: Es werde der Verdacht geäussert, «das Christentum antworte auf die Nöte und Ängste der Menschen nur noch mit verbrauchten Geheimnissen», so Daniel Kosch. 
Dass die Anzahl Mitglieder anhaltend rückläufig sei, würde die Situation der Kirchen zusätzlich stark belasten. Die Grosskirchen der Schweiz, denen im Jahr 1910 98% und im Jahr 1970 noch 95% der Bevölkerung angehörten, kämen heute noch auf einen Anteil von knapp 60%, in einigen Schweizer Städten sei der Anteil bereits unter die Hälfte gesunken. Ein Drittel der römisch-katholischen Kirchenmitglieder hätten Migrationshintergrund, dadurch andere Erfahrungen, setzten andere Schwerpunkte und entwickelten andere theologische Interpretationen. Durch die zugewanderten Mitglieder werde die schweizerische römisch-katholische Kirchenlandschaft zwar zahlenmässig grösser, lebendiger und bunter, sei aber auch stärkeren internen Spannungen ausgesetzt.

Glaubensschwäche und Identitätsverlust

Der Glaube an Gott gerate teilweise in den Hintergrund der kirchlichen Aktivitäten oder werde ganz aufgegeben, bedauerte der Theologe und führte weiter aus: «Wenn der Eindruck entsteht, dass Gott nicht mehr notwendig ist, braucht es keine Kirchen mehr». Heute sei das Christentum, ähnlich den alten majestätischen Ruinen, die als Steinbruch zur Errichtung neuer Gebäude dienten, für unsere Gesellschaft zum Lieferanten eines Vokabulars, eines Schatzes an Symbolen, Zeichen und Praktiken geworden, die anderswo neue Verwendung fänden. Jeder könne auf seine Weise Gebrauch davon machen, ohne dass christliche Autoritäten ihre Verwendung und ihre Verteilung steuern oder ihrerseits den Sinngehalt definieren könnten. Damit verliere das Christentum seine Identität. 

«Die katholische Kirche muss sich neu positionieren»

Zudem leide die katholische Kirche unter einem katastrophalen Glaubwürdigkeitsverlust vorwiegend ausgelöst durch den Missbrauch von Vertrauen und Macht, der zur Zerstörung unzähliger Biografien meist junger Menschen geführt hat. In Frage gestellt sei nicht nur die moralische Integrität, sondern die römisch-katholische Kirche müsse auch zum Umgang mit dem Ausschluss von Frauen aus dem Pfarrberuf, den unklar definierten Rollen von Laienmitarbeitenden und dem Zölibat neu Stellung beziehen. Ein reformorientiertes Lager fordere zudem, dass die römisch-katholische Kirche den Klerikalismus überwinde: «Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass auch jene, die wie Papst Franziskus und andere Bischöfe den Klerikalismus überwinden wollen, nicht nur Teil, sondern auch Nutzniesser des klerikalen Systems sind. Sie äussern und verhalten sich deshalb manchmal selbstwidersprüchlich und das macht die Situation schwierig und unübersichtlich», gab Kosch zu Bedenken.
Die Strukturen für gesamtgesellschaftliches Engagement seien sehr wichtig und förderungswürdig. «Aber wenn die Kirchen ihre Daseinsberechtigung primär von der Rolle als gesamtgesellschaftliche Akteure herleiten, sind sie in Gefahr, sich selbst zu säkularisieren», betonte der Generalsekretär.

Versuch einer Zukunftsvision

In dieser Situation eine Zukunftsvision zu entwickeln sei nicht einfach. Die christlichen Kirchen könnten ihre Identität nur bewahren, wenn sie das Doppelgebot nicht aus den Augen verlören: «Du sollst lieben deinen Herrn und Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und du sollst deinen nächsten lieben wie dich selbst» (Mt 22, 37+39/Mk 12,31/Lk 10,27). «Könnte das eine Art Zukunftsvision sein?», fragte der Referent und formulierte zum Schluss seine Zukunftsvision: «Eine Kirche, die sich ganz und gar diesem Doppelgebot verschreibt und auch Ernst macht mit dem Nachsatz Jesu: kein anderes Gebot ist grösser als diese beiden».