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Was heisst Wahrheit in der Theologie und in den Naturwissenschaften? Prof. em. Dr. Heinz Richner zeigte die Differenz von Wahrheitsansprüchen auf. Bild: © FUG / Stefan Wermuth

Zunehmender Erkenntnisgewinn versus Anspruch auf absolute Wahrheit

Zunehmende Erkenntnis ohne Anspruch auf absolute Wahrheit oder Anspruch auf absolute Wahrheit ohne Erkenntnisgewinn: Prof. em. Dr. Heinz Richner erläuterte die Differenz von Wahrheitsansprüchen in der Theologie und in den Naturwissenschaften.

Von Marcus Moser

Was heisst Wahrheit in der Theologie und in den Naturwissenschaften? Wie unterscheiden sie sich? 
Prof. em. Dr. Heinz Richner vom Institut für Evolution und Ökologie der Universität Bern nahm die Herausfor-derung des grossen Themenfelds an und führte in einem dichten Vortrag durch die Problematik. Er tat dies, indem er die Differenz der Wahrheitsansprüche an zwei Punkten beleuchtete: Zunächst an verschiedenen Welt-bildern. Dann an der Frage, wie die Entwicklung des Lebens verstanden werde könne. «Ich werde den Vergleich so machen, dass ich den Anspruch der katholischen Kirche mit der Naturwissenschaft abgleiche», erläuterte Richner. «Die katholische Kirche hat mit dem Papst ein Sprachrohr, das weltweit und häufig gehört wird.» 

Von der Erde zur Sonne und darüber hinaus: Geozentrik, Heliozentrik, Universum

Richner begann seine Tour d’Horizon über Weltbilder in der Antike: Das damals vorherrschende geozentrische Weltbild wurde um rund 300 v. Chr. Erstmals herausgefordert: Aristarch von Samos habe ein heliozentrisches Weltbild vertreten und damit die Beobachtung rückwärts laufender «Irrsterne» auf Grund der Annahme unterschiedlicher Bahngeschwindigkeiten der Planeten um die Sonne erklären können. Ptolemäus gelang 400 Jahre später die Wiederetablierung eines geozentrischen Weltbilds. Dabei sei es 1400 Jahre lang geblieben, erläuterte Richner, bis eine Reihe von Wissenschaftlern (Nikolaus Kopernikus, Galileo Gallilei, Johannes Kepler, Giordano Bruno) dank neuer Methoden, Instrumente und Beobachtungen zum Schluss gekommen seien, dass doch die Sonne im Zentrum stehen müsse. «Sie sehen: Das Weltbild wurde bis heute mehrfach umgestürzt». Im nächsten Schritt weitete Richner den Blick zum Universum. Auch hier gäbe es verschiedene Theorien. Die Urknalltheorie für die Entstehung von Raum, Zeit und Materie sei erst 1931 vom Theologen und Physiker Georges Edouard Lemaître entwickelt worden. Jüngst habe der inzwischen verstorbene Astrophysiker Stephen Hawkins die Theorie vorgestellt, dass die Ausdehnungsgeschwindigkeit des Universums an verschiedenen Orten unterschiedlich sei. «Die Urknalltheorie ist eine Baustelle», kommentierte Richner lakonisch. Aber genau dies sei in den Naturwissenschaften eben normal. Man nähere sich in einem Erkenntnisprozess dem an, was wahrscheinlicher sei. 

Heinz Richner verglich diesen Befund mit ausgewählten Aussagen der katholischen Kirche: Auch die Bibel kenne ein geozentrisches Weltbild. Wie bekannt, habe die Kirche ein heliozentrisches Weltbild dann aber nicht akzeptieren wollen. «Galilei wurde unter Hausarrest gestellt, die Bücher von Kopernikus verbrannt und Giordano Bruno zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt». Und heute? «1992 befand Papst Johannes Paul II, dass Galilei «wahrscheinlich» Recht hatte.» 1951 habe Papst Pius XII die Urknalltheorie akzeptiert, allerdings als «Schöpfungsakt». Diese Ansicht hätte Papst Franziskus auch 2018 noch vertreten.  

Evolution und die Ehrfurcht vor der Kartoffel

Als zweites Beispiel wandte sich Heinz Richner der Evolution der Arten zu: «Wenn Sie eine Kartoffel setzen, werden sie ein halbes Jahr später an der gleichen Stelle mehrere Kartoffeln ernten können. Die Kartoffel hat sich selber kopiert». Leben sei die Fähigkeit von Individuen, sich selbst zu kopieren, fasste Heinz Richner seine detaillierten Ausführungen prägnant zusammen. Zufällige Kopierfehler, sogenannte Mutationen, seien eine unvermeidliche Konsequenz des Kopiervorgangs. Dadurch entstünden Variationen unter den Nachkommen, wobei der Umwelt angepasste Varianten besser überlebten und dieser Selektionsprozess zu Anpassung führe. Darum könne man formulieren: «Die Grundlagen der Evolution sind zufällige Mutation und Selektion.» Der Biologieprofessor legte auch hier die Erkenntnisse wiederum auf eine Zeitachse: Seit Aristoteles und bis ins 18. Jahrhundert seien die Naturwissenschaften von fixen Arten ausgegangen. «Also so, wie ein Schöpfer diese Arten gemacht hätte, unveränderbar.» Vor 300 Jahren sei die Idee der Veränderlichkeit von Arten erstmalig bei Jean-Baptiste de Lamarck aufgetaucht, der davon ausgegangen sei, dass auch Eigenschaften, die wir uns aneignen, vererbt werden könnten. Charles Darwin schliesslich habe eine Theorie der Evolution entwickelt und vorgeschlagen, dass verschiedenste Arten gemeinsame Vorfahren haben könnten und dass Evolution ein Prozess sei, in welchem Variationen entstehen, die der unterlägen. Auf der Zeitachse folgten Watson, Crick und Franklin und die Entdeckung der DNA im Jahr 1956. Heute sei das von vielen Forschenden bearbeitete Feld die Epigenetik, die untersuche, ob verschiedene Umwelteinflüsse bei identischen genetischen Informationen zu unterschiedlichen, sogar vererbbaren Eigenschaften führen könnten. Damit würde die einst bei Lamarck belächelte Idee in gewisser Weise wieder aktuell. Für Richner wiederum ein Hinweis darauf, dass es in den Naturwissenschaften eben keine fixen Wahrheiten gäbe und die Naturwissenschaften auch keinen Anspruch auf absolute Wahrheit erheben würden.

Und die Reaktion der Kirche? Papst Pius IX 1870 habe als Reaktion auf Darwin unterstrichen, dass Gott der alleinige Schöpfer sei. Pius XII habe 1950 festgestellt, dass die Kirche die Evolutionslehre nicht verbiete, aber alle Menschen allein von Adam abstammten - auch die Frau -, dass der Schöpfer den Menschen die Seele gab und die Kirche ein Anrecht auf Wahrheit habe. Heinz Richner verwies sodann auf Johannes Paul II, der 1996 festgestellt habe, dass die Evolution mehr als eine Hypothese sei, aber die Seele nicht erklären könne. Die Päpste Benedikt XVI und Franziskus hätten selbst in jüngster Vergangenheit daran festgehalten, dass es keinen Widerspruch zwischen Evolution und Theologie gäbe, da die Evolution die Existenz eines Schöpfers bedinge respektive beweise.

Am Schluss war das Fazit für Heinz Richner in der Gegenüberstellung deutlich: Die Naturwissenschaften basierten auf Methoden. Hypothesen führten zu Voraussagen, die durch Beobachtungen, Experimente und Modelle oder Simulationen überprüft und dann bestätigt oder eben verworfen würden. Das Ergebnis sei ein zunehmender Erkenntnisgewinn - aber ohne Anspruch auf absolute Wahrheit. Demgegenüber erhebe die Kirche einen Anspruch auf absolute Wahrheit, aber ohne Erkenntnisgewinn und ohne irgendeine erkennbare Methode. «Für die Kirche gilt als Modell unserer Existenz und des Universums die Schöpfung. Für die Naturwissenschaften gibt es dagegen natürliche Ursachen.»