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Prof. Dr. Thierry Carrel: « Auch diejenigen in der Gesellschaft, die nicht in die Kirche gehen, haben meist ein Interesse an religiösen Themen und an Spiritualität.» Alle Bilder: © FUG / Stefan Wermuth

Trotz Säkularisierung und Individualisierung: Ungebrochenes Interesse an Religion

Trotz sinkender Mitgliederzahlen und schwindender Deutungshoheit bei den Landeskirchen ist in der Schweiz das Interesse für Religion und Spiritualität ungebrochen. Doch die Kirchen müssen darauf reagieren, dass viele Menschen vorziehen, selber über ihre Religiosität zu bestimmen.

Von Sarah Beyeler und Marcus Moser

«Gerade heute darf man gespannt sein, denn es tut sich etwas geradezu Paradoxes», begrüsste Forumspräsident Prof. Dr. Thierry Carrel das Publikum. Denn ausgerechnet beim Thema «Kirchen vor leeren Bänken» sorgten die Referierenden hier für volle Bänke. Während also das Kerngeschäft der Glaubensvermittlung in der Kirche schwächle, sei die akademische Beschäftigung mit diesem Problem offensichtlich ein Publikumsmagnet.
Soviel sei klar: «Auch diejenigen in der Gesellschaft, die nicht in die Kirche gehen, haben meist ein Interesse an religiösen Themen und an Spiritualität.» Die Kirchen müssten darauf reagieren, dass heute viele Menschen lieber selber über ihre Religiosität bestimmen wollten. Die heutige Gesellschaft nehme zunehmend Abschied von alten Kirchenritualen «und will nicht unbedingt Sonntags von der Kanzel mit Dogmen belehrt werden», sprach Carrel eine zentrale Herausforderung der Landeskirchen an.

«Eigentlich können wir von Kirche nur in der ersten Person plural sprechen: Wir, die Kirche», so Prof. Dr. Isabelle Noth in ihrer Einführung.

Ernüchternde Kluft zwischen Vision und Realität?

«Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist die Kirche», zitierte Prof. Dr. Isabelle Noth vom Institut für Praktische Theologie der Universität Bern den französischen Theologen Alfred Loisy. Das Zitat werde oft als Verweis auf die «ernüchternde Kluft zwischen ursprünglicher Intention und faktischer Umsetzung, zwischen Vision und Realität» verstanden. Zwar habe Loisy keinesfalls einen fundamentalen Widerspruch zwischen Kirche und Jesus gesehen, fuhr Noth fort. Sie bezog sich dabei auf die Notwendigkeit von Traditionen und Institutionen, die diese bewahrten – im Sinne von Fulbert Steffensky, der die Kirche als «einen Ort der Geschichten der Zuneigung Gottes» gesehen habe. Doch es gebe im Protestantismus eine negative Fixierung auf Kirchenleitung und die institutionelle Seite der Kirche. Zwar werde das Christentum bejaht, «aber möglichst nur als Gesinnung, und möglichst fern von seiner Gestalt». Inzwischen habe sich aber auch im Protestantismus ein tieferes Verständnis für Formulare und Traditionen entwickelt, relativierte Noth – «eine Kerze anzuzünden löst bei uns keine Schockstarre mehr aus und umgekehrt weiss ich, wie kritisch im römisch-katholischen Kontext über Kirche gedacht wird». 

Wir, die Kirche

Die Kirche sei nichts von Christinnen und Christen Abgesondertes, betonte Noth und folgerte, dass wir daher von Kirche in der ersten Person plural sprechen müssten: «Wir, die Kirche.» Ähnlich fordere der amerikanische Wissenschaftler Timothy Murphy, Kirche dürfe nicht mehr länger ein Nomen, ein Objekt sein, sondern Kirche müsse heutzutage eine Aktivität bezeichnen, einen Prozess gemeinsam praktizierter Nachfolge Jesu. Daher werde die starke Assoziation von Kirche mit leeren Bänken der Thematik letztlich nicht gerecht – denn Kirche sei eben nicht einfach die eine Stunde am Sonntagmorgen, sondern: «Kirche, das sind zahlreiche Formationen und Situationen, stets auf der Suche nach den Menschheitsträumen, nach Gerechtigkeit, der Sehnsucht nach Güte und Grosszügigkeit.»

«Die Verhältnisse werden umgekehrt. Was Neues entsteht, ist aber noch nicht klar», äusserte sich Prof. Dr. Stefan Huber zu den Folgen von Säkularisierung, Individualisiserung und Migration auf die Religionslandschaft Schweiz.

Ungebrochenes Interesse an Religion

«Das Interesse an Religion ist ungebrochen», betonte Prof. Dr. Stefan Huber vom Institut für Empirische Religionsforschung der Universität Bern gleich zu Beginn. «Spiritualität spielt eine wichtige Rolle.» Die Gegenwart zeige aber eine epochale Transformation des religiösen Feldes in der Schweiz. Zum besseren Verständnis der Veränderungen blickte Huber zunächst zurück in die Geschichte: Im 7. Jahrhundert sei die Schweiz flächendeckend christianisiert worden. Danach habe es während 800 Jahren ein katholisches Monopol gegeben. «Die katholische Kirche war mit dem Staat verbunden und hat bestimmt, was religiös richtig und was falsch war.» Den ersten Einschnitt habe es dann mit der Reformation im 16. Jahrhundert gegeben: «Aus dem Monopol entstand ein Duopol.» Das Grundgefühl blieb, wie Huber ausführte: «Wenn ich zur Gesellschaft gehören will, dann muss ich auch zu einer Kirche gehören. Eine Existenz ohne Kirche war damals undenkbar.» Genau dies ändere sich jetzt. Wir lebten in einer Revolution, die durch drei Faktoren bestimmt sei: Durch die Säkularisierung, die Individualisierung und die Migration. «Die Verhältnisse werden umgekehrt. Was Neues entsteht, ist aber noch nicht klar», meinte Huber. Das sei das Unbekannte. Hier könnten nun aber die beiden religionssoziologischen Grosstheorien zur Orientierung weiterhelfen: Die Säkularisierungstheorie und die Individualisierungstheorie. 

Säkularisierung und Individualisierung

Huber erläuterte zunächst die Säkularisierungstheorie: Deren Bezugsrahmen seien Modernisierung und Sozialisation. Religion werde also primär gelernt. Bezüglich der Grundannahme bestehe ein unauflösliches Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Religion: Je mehr Moderne, desto weniger Religion. Daraus leite sich als Prognose ein kontinuierlicher Abwärtstrend aller Formen von Religion, Religiosität und Spiritualität ab. Als Empfehlung für die Kirchen bliebe ein defensiver Rückzug in Nischen übrig. 
Stefan Huber würde sich selbst eher der Individualisierungstheorie zuordnen. Deren Bezugsrahmen sei die Individualisierung, die besage, dass Menschen heute ihre Biografie selber entwerfen müssten. Es liege an ihnen zu bestimmen, wer sie sein wollten – dies gelte auch für ihre religiösen Überzeugungen. Grundannahme hier: Es gebe eine anthropologische Konstante als unversiegbare Quelle von Religiosität. Daraus liesse sich die Prognose ableiten, dass das Religiöse konstant bleibe, es aber zu einem Gestaltwandel von Religion und Religiosität komme. Als Empfehlung für die Kirchen lasse sich ein neues Selbstbewusstsein als dienende Kirche ableiten, erläuterte Stefan Huber. «Dienend nicht im Sinne der Diakonie, sondern als Hilfe der Kirche an die Menschen, mit den Fragen, die sich heute stellen, umzugehen.» 

Religiöse Senior- und Juniorpartner

Stefan Huber erläuterte die Wandlung der Stärkeverhältnisse der verschiedenen Religionen in der Schweiz. Demnach gehörten 1930 99 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Religion an. Die Katholikinnen und Katholiken waren damals die Juniorpartner der Reformierten. 1970 hatte sich das verändert. Zwar waren immer noch 98 Prozent der Bevölkerung Angehörige einer christlichen Religion, die Reformierten und die Katholikinnen und Katholiken waren aber inzwischen gleich stark. Neu waren aber Freikirchen am wachsen, deren Modell vom Christsein unabhängig vom Staat sei. 
2016 hatte sich das Bild grundlegend verändert: Noch 67 Prozent der Bevölkerungwaren Angehörige einer christlichen Religion; im Vergleich mit 1970 ein Minus von 30 Prozent. Die reformierte Kirche war nun der Juniorpartner der katholischen Kirche, der grössten religiösen Institution in der Schweiz. Andere Kirchen wuchsen stark. Darunter fallen Migrationskirchen, aber auch Freikirchen. Neu wachse auch der Anteil Islamischer Regligionsangehöriger sowie der Religionsfreien. Als Fazit zeigte sich für Stefan Huber eine starke Pluralisierung des religiösen Feldes.

Die Menschen bleiben religiös resonanzfähig

Was bedeutet dies für die Glaubensinhalte? Die Säkularisierungstheorie würde ja erwarten lassen, dass es einen kontinuierlichen Rückgang gegeben habe. Dem sei insgesamt nicht so, unterstrich Stefan Huber. Knapp 90 Prozent der schweizerischen Wohnbevölkerung glaubten an mindestens ein religiös-spirituelles Konzept (religiös-spirituelles Konzept oder Gott, höhere Macht, geistige Macht, Leben nach dem Tod, Reinkarnation). Und der Relligionsmonitor habe aufgezeigt, dass rund 70 Prozent der Wohnbevölkerung zumindest gelegentlich über religiöse Fragen nachdächten. «Es gibt also ein grosses Potential», schloss Huber.

Veranstaltungsreihe Winter 2018/19

Kirchen zwischen Macht und Ohnmacht

Die Veranstaltung «Vor leeren Bänken und zwischen den Stühlen» bildete den Auftakt zur fünfteiligen Veranstaltungsreihe «Kirchen zwischen Macht und Ohnmacht». Die Reihe nähert sich der spezifischen Situation der christlichen Landeskirchen in der Schweiz.

Informationen, Veranstaltungsmaterialien und Anmeldemöglichkeiten zur den einzelnen Veranstaltungen finden Sie hier