Forum für Universität und Gesellschaft

Aus dem Innern des Mediums

Ulrich Lantermann über die Menschen hinter Wikipedia. Alle Bilder: © Forum Universität und Gesellschaft / Stefan Wermuth

Aus dem Innern des Mediums

Wikipedia gilt als Paradebeispiel für Open Content. Aber was motiviert Tausende von Autorinnen und Autoren dazu, ihre Freizeit in die Internetenzyklopädie zu investieren? Ulrich Lantermann, Autor und Mitarbeiter von Wikimedia Schweiz, vermittelte im Rahmen einer Veranstaltung des Forums für Universität und Gesellschaft einen Blick hinter die Buchstaben.

Von Marcus Moser

Die blossen Zahlen sind überwältigend: In Wikipedia gibt es 41 Millionen Artikel in 291 Sprachversionen. Täglich werden allein in deutscher Sprache 300 bis 350 neue Artikel angelegt. Rund 3000 Autorinnen und Autoren sind pro Monat aktiv. «Wir versuchen, den Leuten das Wissen der Menschheit zur Verfügung zu stellen», erklärte Ulrich Lantermann die Motivation hinter Wikipedia.

Lantermann ist unter dem Benutzernamen Lantus selber seit 2004 Wikipedia-Autor. Als Mitarbeiter von Wikimedia Schweiz hält er Vorträge an Schulen und Universitäten, so auch im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Digitale Welt - Analoge Erfahrung» des Forums für Universität und Gesellschaft. «Ich versuche den Menschen zu zeigen, dass Wikipedia kein Teufelszeug ist. Aber gerade Lehrer haben – sagen wir mal – grossen Respekt vor uns...» Die Lacher sind Lantermann nach derartigen Bemerkungen sicher.

Werbefrei und neutral

Wikipedia ist ein Projekt der Wikimedia Foundation und wohl deren bekanntestes Produkt. Wikimedia ist eine Non-Profit-Organisation mit Sitz in Kalifornien und hat als Ziel, den universellen und freien Zugang zu Wissen zu ermöglichen. Die Nutzung der Internetenzyklopädie ist gratis, Wikipedia ist werbefrei und wird ausschliesslich durch Spenden finanziert.

Wikipedia baut auf einem kollaborativen Gedanken auf: Jeder und jede kann einen Beitrag leisten, sei es als Autorin von Artikeln oder als Korrektor von Beiträgen anderer. Damit diese personenüberschreitende Zusammenarbeit aber funktioniere, sind gemäss Lantermann klare Regeln nötig. Die wichtigste hierbei trägt das Kürzel AGF für «Assume Good Faith» –  gehe von guten Absichten aus. Es sei wichtig, allen Autorinnen und Autoren zu unterstellen, dass sie Beiträge und Änderungen an Beiträgen eben mit guten Absichten erstellten.

Seriöse Quellen als Basis

Daneben gebe es Grundprinzipien, die eingehalten werden müssten. Dazu gehört ein neutraler Standpunkt (NPOV «Neutral Point Of View») und die Verständigung darüber, was Wikipedia nicht ist (WWNI): Wikipedia sei kein Wörterbuch, keine Theoriefindung, kein Essay, keine Selbstdarstellung und auch kein Verzeichnis.

Ausserdem gelte es bei freien Inhalten urheberrechtliche Punkte zu beachten: Persönlichkeitsrechte zum Beispiel. «Was dürfen wir über Personen schreiben, die in der Öffentlichkeit stehen oder über deren Angehörige?» umriss Lantermann zwei allgegenwärtige Fragen. Denn Spekulationen und Gerüchte hätten in Wikipedia nichts verloren. «Zentral sind Belege. Alles, was geschrieben wird, muss durch eine reputable Quelle auch belegt werden können.»

Ulrich Lantermann in der Veranstaltungsreihe des Forums.

Anerkennung als Motivation

Aber was treibt denn Menschen an, sich stundenlang hin zu setzen, zu recherchieren, Fakten zu sichten um schliesslich Artikel zu schreiben oder zu Artikeln beizutragen? Lantermann blieb bei seiner Antwort bodennah: «Es gibt diesen Stolz, wenn man etwas fertiggebracht hat.» So sei es beim Schreiben eines Artikels auch. Zudem gäbe es die Abrufstatistik, die zeige, wie viele Leute den eigenen Artikel angesehen haben. Und das tue einfach gut. Der Wikipedia-Autor verwies aber auch auf den grundsätzlichen Aspekt: Jede Autorin und jeder Autor sei Teil eines grossen Projekts, das weltweit anerkannt sei. Letztlich gehe es um ein Abwägen «von zeitlichem Aufwand und persönlichem Nutzen – als Anerkennung.»

Die Lücke als Ansporn

Warum entstehen aber neue Artikel? «Google ist einer unserer besten Freunde. Wir sind so unterschiedlich wie Feuer und Wasser. Aber wir stehen bei Internetsuchen immer an den ersten Stellen», witzelte Lantermann. Im Grunde sei es aber einfach: «Man sucht etwas, und findet es mit den Suchmaschinen nicht». Dann begännen die Wikipedia-Autorinnen und Autoren eben zu recherchieren. Neues werde entdeckt, Altes hinterfragt. «Und ehe man es sich versieht, wird man vom Leser zum Autor.»

Das passiert offenbar nicht wenigen. Die bei jedem Artikel abrufbare Versionengeschichte macht transparent, wer wie oft am Rechner sitzt. Kann das Artikelschreiben und Artikelverbessern auf Wikipedia gar zur Sucht werden? «Wenn ich mir einige meiner Kollegen vor Augen führe, würde ich nicken», bestätigte Lantermann.

Störungen in der Zusammenarbeit

Ist der neue Artikel erst erfasst, muss dieses «Kind» auch losgelassen, also publiziert, werden. «Dann beginnt das Wechselspiel zwischen dem ursprünglichen Autoren, der was vorgibt, und dem Co-Autoren, der daran was zu ergänzen hat», beschrieb Lantermann. Es sei meistens die Form eines Artikels, die intern hinterfragt werde. Aber es könne auch zu klar ausgesprochener Kritik auf der öffentlichen Diskussionsseite kommen – bis hin zu Löschungsanträgen. «Schon sind wir wieder bei unserer Grundregel – Assume Good Faith – gehe von guten Absichten aus.» Trotz solcher Störungen ist die Mitarbeit bei Wikipedia mit seinen kollaborativen Erstellungs-, Kontroll- und Aushandlungsprozessen sehr beliebt. Ein Richard Hackman habe über derartige Gruppenprozesse geforscht, erläuterte Ulrich Lantermann. Die Ergebnisse sind nachzulesen bei Wikipedia. Autor des Artikels ist ein gewisser Ulrich Lantermann.

«Wikipedia»

Wikipedia ist ein am 15. Januar 2001 gegründetes gemeinnütziges Projekt zur Erstellung einer Enzyklopädie in zahlreichen Sprachen mit Hilfe des Wiki­prinzips. Gemäß Publikumsnachfrage und Verbreitung gehört Wikipedia unterdessen zu den Massenmedien. Aufgrund der für die Entstehung und Weiterentwicklung dieser Enzyklopädie charakteristischen kollaborativen Erstellungs-, Kontroll- und Aushandlungsprozesse der ehrenamtlichen Beteiligten zählt Wikipedia zugleich zu den Social Media. Die Online-Enzyklopädie bietet freie, also kostenlose und zur Weiterverbreitung gedachte, unter lexikalischen Einträgen (Lemmata) zu findende Artikel. Das Ziel ist gemäß dem Gründer Jimmy Wales, «eine frei lizenzierte und hochwertige Enzyklopädie zu schaffen und damit lexikalisches Wissen zu verbreiten». Quelle: Wikipedia